Englisches Steingut hatte sich mit Beginn seines Exports Mitte des 18. Jahrhunderts sehr früh in den Häusern der Reeder und Befrachter des deutschen Nord- und Ostseeraums verbreitet und vor allem in den Küstengebieten als typisches und beliebtes Gebrauchsgeschirr etabliert. Als die kostengünstigen, industriellen Produktionstechniken der Steingutherstellung auch in den Porzellanfabriken Eingang fanden, ging der enorme Absatz von Steingut wieder zurück.
Entstanden sind die beiden Geschirre in der Wächtersbacher Steingutfabrik, die zu den bedeutenden Steingutherstellern Deutschlands zählt. Sie wurde 1832 in dem hessischen Ort Schlierbach bei Wächtersbach gegründet und ist eine der wenigen großen Fabriken, die bis zum heutigen Tag auf ihrem historischen Fabrikgelände Steingutartikel produzieren.
Wächtersbacher Keramiken stellen inzwischen aufgrund ihrer gestalterischen und produktionstechnischen Qualität ein beliebtes Sammelgebiet dar. Eine bemerkenswerte Sammlung von Wächtersbacher Keramiken war im Zuge einer Wanderausstellung im Museum Künstlerkolonie Darmstadt, im Museum für Angewandte Kunst Gera, im Vonderau-Museum Fulda und in den Staatlichen Museen Kassel zu sehen.
Die Formserie “Haarlem” wurde bei ihrer Einführung neben uni-weiß oder farbig glasiert auch in neun aufwendigeren Trenddekorationen hergestellt: mit mattgrüner Kunstglasur glasiert (Dekor 4003), mit mattbrauner Kunstglasur glasiert (Dekore 4005 und 4019), überzogen mit rotem Fond und schwarzer Staffage (Dekor 3637), dekoriert mit modernen Fonddekoren (Dekore 3667 und 3669), lichtgelb glasiert mit schwarzer Staffage (Dekor 3700) oder roter Staffage (Dekor 3740) und schließlich mit Fond und weißen Rändern versehen (Dekor 73a/1).
Das Dekor 2873 verleitet mit seinen weißen Punkten auf rotem Grund zunächst dazu, es in die 1950er Jahre des 20. Jahrhunderts zu datieren. Tatsächlich kann das Dekor in dieser Ausführung bereits 1927 im Hauptkatalog der Wächtersbacher Keramik auf einem Krug (Art.-Nr. 6988) nachgewiesen werden. Als das Teegeschirr “Haarlem” 1932 auf den Markt kam, zählte Dekor 2873 nicht zu den Einstiegsdekoren, sondern wurde erst seit 1934/35 auf “Haarlem” angeboten. Die Entwerferin Ursula Fesca hatte es demnach als zeitgemäße Gestaltung für ihre Formen wiederentdeckt. Seitdem besaß das Dekor über Jahrzehnte hinweg in verschiedensten Ausführungen eine sehr große Beliebtheit: nach dem 2. Weltkrieg war es als Dekor 2873 weiterhin sehr stark im Sortiment vertreten, wenngleich nicht auf Form “Haarlem”, sondern auf Geschirrserien wie “Helga”, “Irmgard” und “Inge”. In den 1970er Jahren erlebte es unter der Bezeichnung “Polka” als langjähriger Bestseller eine zweite Renaissance und wurde schließlich Anfang der 1990er Jahre ein weiteres Mal als “Dots & Co” angeboten.
Die Dekoration des Teeservices basiert auf einer Reservagetechnik. Dabei wurden auf das transparent glasierte und gebrannte Geschirr zunächst die Punkte mit einem Trennmittel aufgetragen, der rote Fond mit Schmelzfarbe aufgespritzt und abschließend die Punkte, auf denen der Fond nicht haften konnte, wieder freigelegt. Den Fond fixierte man auf den Gefäßen in einem weiteren Brand.
Ursula Fesca, geboren am 1. März 1900 in Hohenbucko/Sachsen, hatte nach ihrer keramischen Ausbildung an einer Berliner Zeichen- und Kunstgewerbeschule von 1925 bis 1928 in der Steingutfabrik Vordamm der Fabriken Velten-Vordamm und von 1928-1931 in der Steingutfabrik Elsterwerda erfolgreich an der Sortimentsgestaltung der Werke mitgewirkt. Ihr kreativer Schwerpunkt lag auf moderner Oberflächenbehandlung mittels innovativer Techniken wie Schablonendekore, Mattglasuren und Krakeleeglasuren.
Das Sortiment der Wächtersbacher Steingutfabrik prägte sie seit 1931 maßgeblich mit ihrem sogenannten “Fesca-Stil”. Dieser äußerte sich in anspruchsvollen modernen Formen, die in ihrer schlichten zeitlosen Ästhetik den sachlich-funktional ausgerichteten Zeitgeschmack der 1920er und frühen 1930er Jahre repräsentieren. Mit ihren Dekoren und Glasuren verfolgte sie die Linie ihrer vorausgegangenen Arbeit in Vordamm und Elsterwerda.
Als kreative Kraft besaß Ursula Fesca in Wächtersbach freie Hand, so daß sie bereits 1932 vier neue, eigenständige Teegeschirre, darunter das Teegeschirr “Haarlem”, gemeinsam mit einer Reihe von attraktiven Kleinserien wie Bowleservicen, Likörservicen und Leuchtern auf der Leipziger Messe vorstellen konnte.
Die neuen Formen und Dekore Ursula Fescas müssen im Handel großen Anklang gefunden haben, da die Firma ab Oktober 1932 in Zeitschriftenanzeigen nicht nur mit dem Jubiläum der Wächtersbacher Steingutfabrik warb, sondern zugleich eine breite Auswahl der Fesca-Entwürfe beifügte. In der zweiten Weihnachtsausgabe der Schaulade, dem “offiziellen Organ des Centralverbandes der Deutschen Luxus- und Galanteriewarengeschäfte”, von 1932, kommentierte G. Bernd die Neuheiten: “Zwei Gattungen moderner Steingutkeramik sind es, die dem werkkünstlerischen Schaffen der Wächtersbacher Steingutfabrik G.m.b.H., Schlierbach bei Wächtersbach, neuerdings das Gepräge geben: ein in ganz lichten, verlaufenden Matt-Tönen gehaltener Typ und ein anderer, der sich durch eine großflächige Musterung in kräftigen, satten Farben charakterisiert. Geschirre beider Gattungen, an deren Gestaltung eine neue künstlerische Kraft, Frl. Fesca, hervorragenden Anteil hat…” “Was nun die Formen selbst betrifft, so berühren sie einen sogleich sympathisch durch ihre schlichte und doch plastisch eindrucksame Gestaltung. …Alles Gespreizte, wie wir es manchmal im Porzellan antreffen, liegt ihnen fern.”
Auch die Aussage von B. Siepen in der Schaulade 10 von 1934 ist auf die Entwurfsarbeit von Ursula Fesca zu beziehen: “Eine Steingutfabrik, die namentlich in den letzten Jahren einen keramischen Typ von zeitgemäßer und künstlerisch entschiedener Haltung entwickelt hat, ist die Wächtersbacher Steingutfabrik G.m.b.H.” Nach H. und L. Frensch sicherten die Arbeiten Fescas der Fabrik “den Anschluß an das damalige internationale kunstkeramische Geschehen”.
Ursula Fesca zog sich 1939 wegen Krankheit für einige Jahre aus dem Betrieb zurück. Ab 1947 nahm sie die Arbeit im Atelier der Wächtersbacher Keramik wieder auf und blieb bis zum Ruhestand im Jahr 1965.
Ausgeführt ist das Geschirr in Dekor 3700: unter der lichtgelben Glasur sind die angarnierten Teile, wie Henkel, Schnaupen, Deckelknäufe und die Kannentülle, mit schwarzer Unterglasurstaffage versehen. Dessertteller und Brotbretter sind uni-lichtgelb. “Wie im Hohl- und Preßglase, so hält das tiefe, blanke Schwarz als Dekorfarbe nunmehr auch im Steingut seinen Einzug. Und man muß sagen, daß es auf dem warm-gelblich getönten Scherben, wie ihn die Wächtersbacher Steingutfabrik herausbringt, sehr effektvoll zur Geltung kommt.” (Schaulade 9, 1933)
Geschirrsortimente sind gewachsene Systeme. Am Service “Haarlem” kann sehr gut demonstriert werden, wie und unter welchen Einflüssen sich die Entwicklung eines Geschirrsortiments vollzieht.
Die Form “Haarlem” war zunächst als Teeservice konzipiert. In der Nachtragsliste von 1933 besteht sein Sortiment aus Teekanne 8300, Milchgießer 8306 und Zuckerdose 8307 – jeweils in zwei Größen -,Tasse mit Untertasse 8308/1+2, Teeklotz 4348, Eierbecher 514a, Butterdose 8434, Marmeladendose 8422, Unterplatte 6957, Teller 4771, Kuchenplatte 4781, Brotkorb 8365 und Beilageschale 199. Teekanne, Milchgießer, Zuckerdose und Tasse mit Untertasse sind gemäß ihrer Artikelnummer aus einem Guß als Einheit entworfen und umgesetzt worden. Die Artikelnummern von Dessertteller und Kuchenplatte zeigen, daß auch sie gemeinsam aus einer Grundform heraus entstanden sind, wenngleich bereits in den Jahren um 1920. Die Artikelnummer 100 der Brotbretter belegt, daß es sich um eine sehr frühe Form aus den Anfängen der Fabrik handeln muß.
Die Dosenform 8398, der Brotteller 8467 und die Eierbecherform 8507 wurden zwar ebenfalls im Katalog von 1933 aufgeführt, aber nicht in Dekor 3700 angeboten. Diese Sortimentserweiterung erfolgte erst zwischen 1934 und 1935. In diesen Zeitraum fiel ebenfalls die Einführung der länglich-ovalen Kaffeekanne 8571 und der Krugform 8650 (in sieben Größen). Ab 1934/35 konnte man sich folglich ein Frühstücksgeschirr wie das im Schlossmuseum Jever vorhandene im Fachhandel zusammenstellen lassen.
Die Ergänzung der Kaffeekanne kurz nach Einführung der Formserie läßt den Rückschluß zu, daß Form “Haarlem” im Handel schnell auf große Akzeptanz gestoßen war und wiederholt nach einer seperaten Kaffeekannenform verlangt worden war.
Als Kaffeeservice wurde die Geschirrform “Haarlem” in Dekor 3700 bis 1964/65 angeboten. In den 1950er Jahren tauschte man die längliche Kaffeekannenform gegen eine offensichtlich gängigere runde Form aus. Milchgießer und Brotbrett wurden ebenfalls durch zeitgemäßere Formen ersetzt, der Butterteller scheint ganz aus dem Sortiment genommen worden zu sein.
Geschirrsortimente sind oft Konglomerate aus verschiedenen Formserien. Da die Einführung von neuen Formen in die Produktion im Vergleich zu neuen Dekoren oder Glasuren sehr kostspielig ist, greift man gerne zunächst auf Vorhandenes zurück. Zugleich bieten im Formenrepertoire durchgängig angebotene Glasuren und Dekore dem Kunden die Möglichkeit, das Geschirr um attraktive Artikel und Zierobjekte wie Leuchter, Schalen und ähnliches zu ergänzen.
Die Entwicklung eines Geschirrs im Firmensortiment und in den Schränken der Haushalte ist daher interessanter Hinweis auf Angebot und Nachfrage im Handel und zugleich Spiegel des Lebensgefühls einer Zeit.
Steingut ist dem Porzellan in seiner Erscheinung sehr ähnlich. Der gebrannte Scherben ist wie Porzellan fast weiß und für Unterglasurdekorationen geeignet. Steingut wurde schon sehr früh industriell als Massenware produziert und war daher in seiner Herstellung sehr viel günstiger als Fayencen oder Porzellan. Ein weiterer großer Vorteil lag in seinen niedrigen Brennbereichen, die eine größere Farbpalette und Farbintensität bei Glasuren und im Einsatz von Scharffeuerfarben erlauben. Masseversatz und Brenntemperatur führen beim Steingut allerdings oft im Laufe des Gebrauchs zu Haarrissen, so daß historische Objekte in der Regel von einem feinen Haarrissnetz überzogen sind.
Nach dem Fund von weißem, für die Steingutherstellung geeignetem Ton in der Nähe von Schlierbach, bei dem Ort Wächtersbach/Hessen, schloß Graf Adolf zu Ysenburg und Wächtersbach mit vier Honoratioren aus Wächtersbach und zwei Bürgern aus Schlierbach am 8. Juni 1832 einen Sozietätvertrag zur Gründung der “Wächtersbacher Steingutfabrik”.
Die Produktion lief noch in demselben Jahr an. Echte Rentabilität erreichte das Werk jedoch erst, als 1867 die Bahnlinie Hanau-Wächtersbach das strukturschwache Schlierbacher Tal erschloß. 1856 hatte Graf Ferdinand Maximilian durch Kauf alle Anteile der verbliebenen Teilhaber übernommen, wodurch die Wächtersbacher Steingutfabrik Eigentum des Fürstentums von Ysenburg und Büdingen wurde. Unter der Leitung von Max Roesler (1874-1890 in der Wächtersbacher Steingutfabrik tätig) erlebte das Werk in vielerlei Hinsicht seine erste Blütezeit. Neben sozialen Einrichtungen initiierte Max Roesler im Betrieb eine Zeichenschule sowie die Mitarbeit namhafter externer Entwerfer zur Steigerung des künstlerischen Niveaus des Sortiments. Bis zu seinem Ausscheiden aus dem Werk 1890 hatte die Wächtersbacher Steingutfabrik den Anschluß an die Spitze der damaligen deutschen Steingutproduktion erreicht.
Zu einem Höhepunkt in der wirtschaftlichen und künstlerischen Entwicklung der Fabrik führte die durch Christian Neureuther (1903-1921 als Leiter des Ateliers tätig) gegründete Kunstabteilung der Wächtersbacher Steingutfabrik und seine Zusammenarbeit mit der Darmstädter Künstlerkolonie. In jener Zeit entstanden in der Wächtersbacher Steingutfabrik hochwertigste Jugendstil-Keramiken. Diese zweite Blütezeit endete mit Beginn des 1. Weltkriegs, dem die Weltwirtschaftskrise folgte – Zeiten, in denen Produktion und Abverkauf der Wächtersbacher Keramiken empfindlich stagnierten.
Mit Ende des 2. Weltkriegs nahm die Wächtersbacher Steingutfabrik wieder ihre führende Stellung innerhalb der deutschen Steingutproduzenten ein und etablierte sich neben Villeroy und Boch über lange Zeit als zweitgrößte Steingutfabrik Deutschlands.
Das Warensortiment der Wächtersbacher Keramik zeichnet sich von Firmengründung an durch sorgfältige, qualitätvolle Verarbeitung und durch ansprechendes zeitgemäßes Design aus. Der Anspruch, trendorientiertes Gebrauchsgeschirr unter Anwendung innovativer Techniken herzustellen sowie die Mitarbeit bedeutender Entwerfer zu gewinnen, besteht für die Wächtersbacher Keramik bis heute. Auf dieser Basis stehen die Wächtersbacher Keramiken idealtypisch für die Entwicklung des Zeitgeschmacks seit 1832. Im folgenden sollen die “Bestseller” der vergangenen Jahrzehnte vorgestellt werden, die manch ein Besucher dieser Seiten wiedererkennen wird – vielleicht verbunden mit nostalgischen Gefühlen.
Sabine Zühlcke M.A.
Kontakt: s.zuehlcke@web.de
Für die sehr freundliche Unterstützung und große Hilfsbereitschaft bei der wissenschaftlichen Erschließung der beiden Geschirre bedanke ich mich bei allen Mitarbeitern der Wächtersbacher Keramik, bei Frau Christine Dippold M.A. vom Germanischen Nationalmuseum Nürnberg sowie bei Herrn Käding, Mitglied des Geschichts- und Museumsvereins Brachttal.
Verwendete Literatur:
Bröhan, Karl H., Kunst der 20er und 30er Jahre. Gemälde, Skulpturen, Kunsthandwerk, Industriedesign (Berlin 1985) (= Sammlung Karl H. Bröhan, Berlin, Bd.III) 598-610.
Colour Comedies. Internationaler Architekten- und Designer-Workshop der Wächtersbacher Keramik, hg. von Wächtersbacher Keramik (Kiel 1992).
Frensch, Heinz und Lilo, Wächtersbacher Steingut (Königstein im Taunus 1978).
Wurzel, Thomas (Hg.), Wächtersbacher Steingut. Die Sammlung der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen (Kassel 2001).
Die Schaulade 8 (1932).
Die Schaulade 9 (1933).
Die Schaulade 10 (1934).
Abbildungsnachweis:
Kulturgut Ysenburg, Büdingen: Deckblatt des Preisverzeichnisses der Wächtersbacher Steingutfabrik von 1897.
Schlossmuseum Jever, Jever: Teeservice “Haarlem” in Dekor 2873, Frühstücksgeschirr “Haarlem” in Dekor 3700, MANILA.
Dr. Klaus Strohmeyer, Berlin: Porträt Ursula Fesca.
Transparent Design Management GmbH, Frankfurt/Main: Objekte des Workshops COLOUR COMEDIES.
Wächtersbacher Keramik, Brachttal: Ansicht der Firma vor 1870, Produktionsfoto von “Haarlem”, Geschirrserien ASIA, PASIEGA, INDIAN SUMMER, ISOLA BELLA, WINTERMÄRCHEN, CHRISTMAS TREE, POLKA, HERZ.
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