Schützengrabensouvenirs aus dem Ersten Weltkrieg
Objekte lassen sich in mehrfacher Hinsicht befragen. So erzählen Munitionsreste Militärtechnikgeschichte, Geschichten über die Anstrengungen des menschlichen Geistes, immer neue Lösungen für den immer präziseren und effizienteren tödlichen Kriegseinsatz zu finden. Sie stellen aber auch ein Roadmovie dar: Zwischen den Orten ihrer Herstellung, ihrer Verwendung und ihrer gegenwärtigen Aufbewahrung liegen unter Umständen tausende Kilometer. Und sie vermitteln Geschichten über die Kultur des Sammelns, denn sie wurden von Männern, die vom mörderischen Fronteinsatz geprägt waren, gefunden und als Erinnerungsstück bewahrt. Schließlich gelangten sie ins Museum, wo sie inventarisiert und aufbewahrt wurden.
In der Sammlung des Schlossmuseums Jever befindet sich ein kleines Konvolut von Schützengrabenfunden aus dem Ersten Weltkrieg. Den größten Teil machen verschiedene Fragmente zeitgenössischer Artilleriemunition aus (Schrapnellkugeln und -splitter, Reste von Granatzündern, Artilleriekartuschen). Älteren Objektannotationen zufolge wurde die überwiegende Anzahl der Frontsouvenirs im November/Dezember 1914 in Schützengräben an der Ostfront gefunden. Als Souvenirs gesammelt wurden meist Dinge, die in oder um die eigenen Stellungen herumlagen. Dies waren häufig gegnerische Schrapnell- und Zünderreste sowie eigene Treibladungshülsen, die nach dem Schuss wieder aus dem Geschütz entfernt wurden und vor Ort verblieben. Wie diese Objekte schließlich nach Jever und ins Schlossmuseum gelangten, ist unbekannt.
Impressum: Christian Ganzer.
Die ins Leder geprägte Beschriftung zeigt, dass eine russische, im Dezember 1914 an der Ostfront gefundene Patronentasche in Kazan (Tatarstan, Russländische Föderation) produziert wurde.
Patronentasche
Auch Stempelabdrücke an den Munitionsresten lassen in manchen Fällen Rückschlüsse auf ihre Herstellungsorte zu. So tragen mehrere Zünderspitzen Schlagstempelabdrücke mit den kyrillischen Buchstaben „ПТЗ“ („PTS“) – Petrograder Zünderwerk (Petrogradskij trubotschnyj sawod).
Zünderspitze
Aus Petrograd (heute St. Petersburg) wurden die Granaten zu den Truppen an die Front transportiert. Aber wo wurden sie verschossen? Und wie gelangten ihre Reste nach Jever?
Viele der Objekte sind mit etikettenartigen Aufklebern versehen, die eine blaue Rahmung sowie Zähne wie Briefmarken aufweisen und mit Tinte in Sütterlin beschriftet sind. Als Fundorte werden mehrfach Orte in Polen angegeben. Da die deutschen Soldaten nur selten über Polnischkenntnisse verfügten, gaben sie die fremd klingenden Ortsnamen in falschen Schreibweisen wieder, was ihre Identifizierung erschwert. Ein großer Teil der Objekte wurde im November/Dezember 1914 offenbar in Schützengräben bei Żarki, einer Gemeinde südöstlich von Częstochowa (Schlesien), eingesammelt. Darauf deuten die verwendeten Ortsnamen „Podlesie-Sul“, „Suliscowiec“ und „Zarki“ hin.
Sprengstück
Die Sütterlinschrift wurde von 1915 bis 1941 als Standardschreibschrift in deutschen Schulen unterrichtet und wurde danach bis zum Ausscheiden dieser Schülergenerationen aus dem aktiven Berufsleben noch häufig verwendet.
Der Ortsname Podlesie (wörtlich: „Beim Wald“) ist in Polen sehr häufig, aber tatsächlich gibt es einen heutigen Ortsteil dieses Namens im Dorf Suliszowice, das zur Gemeinde Żarki in Schlesien gehört. Auch der Ortsname „Kracawa“ taucht auf einigen dieser Aufkleber auf. In der Nähe von „Kracawa“ seien manche Objekte im Schützengraben gefunden worden. Möglicherweise ist damit das von Żarki nicht weit entfernte Kraków gemeint. In dieser Region fanden im September und erneut im November 1914 Kämpfe statt.
Wer hat die Funde aus Schlesien nach Jever gebracht? Männer aus Friesland dienten in der Regel im Infanterie-Regiment Nr. 91 in Oldenburg, das Teil des X. Armee-Korps war. Das Regiment war 1914 zunächst an der Westfront eingesetzt, erst im Sommer 1915 kämpfte es an verschiedenen Orten im heutigen Ostpolen sowie im westlichen Belarus – nicht aber in Schlesien. Und auch das Oldenburgische Dragonerregiment Nr. 19 befand sich Ende 1914 nicht in Schlesien, sondern weit über 100 Kilometer nördlich im Raum Łódź. Schließlich blieb auch das 1914 aufgestellte Reserve-Dragoner-Regiment Nr. 6 an der Westfront, lediglich seine 1. und 3. Eskadron kämpften im Herbst bzw. Sommer 1916 an der Ostfront.
Die heißeste Spur führt nach Mecklenburg-Vorpommern, besonders aber ins Elsass. Sie gibt aber bisher keinen sicheren Aufschluss darüber, auf welchem Wege die Objekte ins Museum kamen.
Feldpostbrief
Die Männer aus dem Elsass unterstanden ab Oktober 1914 der Etappen-Inspektion 9, spätestens ab Februar 1915 der Etappen-Inspektion Woyrsch, die zur improvisierten, nach ihrem Befehlshaber Remus von Woyrsch benannte Armeeabteilung Woyrsch gehörte. Diese hielt sich im November 1914 in Schlesien auf. Hinrichs kann also derjenige gewesen sein, der die Objekte im Schützengraben aufgelesen hat. Im August 1914 war er, wie auch das Bataillon, noch im Elsass, wie seine Unterschrift auf dem Umschlag einer Fliegermeldung belegt – die ebenfalls ihren Weg ins Schlossmuseum gefunden hat.
Welcher Zusammenhang in Bezug auf die Objekte zwischen den beiden Orten in Mecklenburg-Vorpommern, Schlettstadt, Schlesien und Jever besteht, ist weiterhin unklar. Auch von französischer Seite wurden die Menschen in Elsass-Lothringen misstrauisch beäugt, besonders jene, die im deutschen Reichsheer gekämpft hatten. Möglicherweise führte dies zum Umzug des Hauptmann Hinrichs ins Reich, wobei es ihn nach Jever verschlug. Wahrscheinlich stammte Hinrichs oder seine Vorfahren aus Nordwestdeutschland, denn dies ist das fast ausschließliche Verbreitungsgebiet dieses Namens.
Denkbar, dass die Überreste aus dem Krieg so nach Jever kamen. Vorerst muss all das Spekulation bleiben. Die gesamte Dokumentation des Landsturm-Bataillons verbrannte 1945 nach einem Luftangriff auf Potsdam, bei dem auch das Kriegsarchiv getroffen wurde. Daher ist es nicht mehr möglich, sich auf die Spuren des Hauptmann Hinrichs zu begeben.
Es fällt auf, dass mehrere Objekte in der Sammlung des Schlossmuseums Bezüge zu Schlettstadt, zum Elsass und zu Lothringen haben. Darunter befinden sich eine Erkennungsmarke aus dem Landsturmbataillon Schlettstadt und ein lederner Brustbeutel mit entsprechender Beschriftung – beide aus der 1. Kompanie des Bataillons.
Mögliche Hinweise auf den von Hinrichs ausgeübten Zivilberuf gibt ein Dienstadler eines kaiserlichen Forstbeamten in Elsass-Lothringen. Anhand der in der Sammlung vorhandenen Försterinsignien könnte man fast eine Arbeitsbiographie des Mannes erstellen: Demnach wäre Hinrichs zunächst in Preußen Forstbeamter gewesen, dann in Elsass-Lothringen, um nach dem Krieg im Freistaat Preußen seinen Dienst im Wald zu versehen.
Und noch ein weiterer Aufkleber verspricht Auskunft über die Herkunft der Objekte, er befindet sich auf einer Treibladungshülse für deutsche Artilleriemunition: „Stellung bei Suliscowiec (Polen). I. Garde Feld Art. Rgt. Nov. 1914.“ Vermutlich handelt es sich um dasselbe Dorf Suliszowice in der Gemeinde Żarki. Jedoch befand sich das in Berlin beheimatete I. Garde-Feldartillerie-Regiment im Herbst 1914 an der Westfront. Erst im Frühjahr 1915 wurde es an die Ostfront verlegt. Eine falsche Fährte also.
Unbekannt ist auch, wann die Objekte ins Museum kamen. Da sie mit Etiketten versehen sind, die um 1920 auch auf andere Sammlungsobjekte geklebt wurden, ist ein entsprechend früher Zugang denkbar. Das würde auch mit den Sütterlinbeschriftungen korrespondieren, allerdings wurde diese Schrift auch noch Jahrzehnte später verwendet. Die Eingangsbücher wurden vor der Professionalisierung des Museums im Jahr 1986 nur lückenhaft geführt, in ihnen finden sich keine Spuren dieser Objekte. Möglicherweise lagen zwischen dem Auffinden und der Inventarisierung ein, zwei oder mehr Jahrzehnte und die Erinnerung an die vielen, weit entfernten und kaum bekannten Orte war verblasst. Vielleicht wurden die Objekte aber auch gar nicht von ihren Findern selbst ins Museum übergeben, sondern von Angehörigen, so dass die Objektgeschichten aus zweiter Hand stammten, von Personen, denen Krieg, Armee und die Fundorte noch fremder waren. Keiner, der einst mit der Geschichte dieser Museumsobjekte zu tun hatte, wird heute noch leben.
So bleiben einige verrostete, einst tödliche Fragmente, deren unmittelbarer Bezug zu Jever und Friesland weiter im Dunkeln liegt. Mit gleichartiger Munition schossen aber auch von hier stammende Männer an weit entfernten Orten auf andere – und wurden von diesen umgekehrt ebenso beschossen. Damit stellt sich ein Zusammenhang zur Region her, da Schrapnelle zur universellen Erfahrung von Teilnehmern am Ersten Weltkrieg zählten. Zumindest in seiner Anfangszeit, denn mit aufkommenden Stahlhelmen, Splitterschutzschilden an Geschützen und dem Übergang zum Grabenkrieg verloren die vornehmlich gegen ungedeckte Ziele wirksamen Schrapnelle ihre militärische Bedeutung.
Russisches Schrapnell
Der Zeitzünder soll dafür sorgen, dass das Schrapnell im Anflug auf gegnerische Stellungen noch in der Luft detoniert. Geschieht dies, ergießt sich eine rotierende Wolke aus mehr als 200 derartigen Bleikugeln auf die im Zielgebiet befindlichen Menschen. Ist der Zeitzünder falsch eingestellt oder versagt er, schlägt das Geschoss auf dem Boden auf und wird durch den Aufschlagzünder zur Detonation gebracht. Da nun der Boden gegen den Zünder drückt, kann der Explosionsdruck nicht mehr nach vorne entweichen und zerreißt den Schrapnellkörper zuverlässig in viele Einzelteile, die als scharfkantige Splitter unterschiedlichster Größe umherfliegen. Der dicke Schrapnellboden bleibt mit Teilen des Geschosskörpers als ebenfalls umherfliegendes Sprengstück erhalten.
Splitter eines russischen Schrapnells
Die scharfkantigen Objekte hinterließen schwer heilende Wunden. Anders als bei solchen, die von Kupfermantelgeschossen verursacht wurden, neigten diese zu Infektionen, die wegen der noch nicht weit entwickelten Medizin und der miserablen hygienischen Bedingungen an der Front oft tödlich endeten.
Die Wandstärke des russischen Schrapnells, das sich in der Sammlung des Schlossmuseums befindet, beträgt 7 Millimeter. Dagegen betrug die Wandstärke russischer Sprenggranaten desselben Kalibers 19,8 Millimeter. Anhand dieses Unterschiedes lassen sich die Splitter den unterschiedlichen Geschossen mit hoher Sicherheit zuordnen.
Als Folge derartiger Detonationen lagen Unmengen von Splittern, Kugeln, Sprengstücken und Zünderresten auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges und natürlich besonders in den Schützengräben herum. Ihrer kinetischen Energie beraubt, stellten sie keine tödliche Bedrohung mehr dar und waren beliebte Souvenirs und Frontmitbringsel. Das Einsammeln und Aufbewahren dieser Gegenstände kann vielleicht auch unter einem psychologischen Aspekt betrachtet werden: Mit dem Aufheben übernahm man die Herrschaft über das zuvor schreckensbesetzte Objekt und konnte sich zugleich an die Bedrohung, der man entgangen war, erinnern.
Auch Munitionsreste können noch gefährlich sein. Drastisch wird dies durch einen Zwischenfall an einer Schule in Gunzenhausen (Bayern) illustriert. Besonders phantasievolle Pädagogen kamen hier im Sommer 1915 auf die Idee, als Preise für gute Ergebnisse beim Sport derartige Schützengrabensouvenirs an die Kinder zu verteilen. Darunter befand sich mindestens ein noch funktionsfähiger Zünder. Als die Kinder damit herumalberten, explodierte dieser in der Hand eines Schülers. Elf Kinder wurden verletzt, zwei davon starben noch am selben Tag.
Doppelzünder
Ein in Sütterlin beschrifteter Zettel ist am Objekt angebracht: „Spitze von einem Granatzünder f. Feldgeschütz. Schützengraben bei Dez. 1914 (Polen).“
Die 7,7-cm-Feldkanone 96 war das Standardgeschütz der Feldartillerie des Deutschen Reiches von ihrer Einführung bis 1918. „96 n/A“ bezeichnet das Einführungsjahr sowie die Tatsache der ab 1906 erfolgten Modernisierung (n.A. = neuer Art).
Durch Drehen an einem Ring wurde die Zeit vom Abschuss bis zur Detonation eingestellt. Die Skala auf dem Zünder war jedoch als räumliche Entfernung angegeben. So konnte der Kanonier, dem die Entfernung bis zum Ziel bekannt war, den Zeitpunkt so einstellen, dass sein Geschoss seine tödliche Ladung mehrere Dutzend Meter über der gegnerischen Stellung entlud. Mechanische Uhrwerke wären für diesen Zweck zwar geeignet, aber in der Herstellung auch sehr teuer gewesen. Deswegen verwendete man pyrotechnische Zeitzünder.
Die Doppelzünder aus russischer Produktion bestehen aus zwei übereinander angeordneten Ringen aus Aluminium, die auf einer gemeinsamen Basis, ebenfalls aus Aluminium, stecken.
Doppelzünder aus russischer Produktion
Der Zünder ist mittels eines stählernen Verbindungsstücks an der Schrapnellhülse befestigt. Der obere Ring ist durch drei innenliegende Zapfen, die in entsprechende Nuten auf der Zünderachse passen, gegen Verdrehen gesichert. Der untere, drehbare Ring ist mit einer Skala von 5 bis 130 versehen und dient zum Einstellen des Zeitzünders in Abhängigkeit der Schussweite.
Der obere und der untere Ring weisen an ihrer unteren Seite jeweils einen Kanal auf, der mit Schwarzpulver gefüllt war. Durch Drehen am unteren Ring wurde die Position von Bohrungen verändert. Diese dienten der Flamme quasi als Abkürzung, wenn eine kürzere Zündzeit eingestellt war. Ansonsten brannte die Flamme den gesamten, einen fast vollständigen Kreis beschreibenden Kanal entlang und schlug erst dann durch die Bohrung. Auch die Basis weist eine derartige Öffnung auf, durch die die Flamme schließlich ins Innere des Schrapnells geführt wurde, wo sie die Ausstoßladung zur Detonation brachte.
Zeitzünder
Brennendes Schwarzpulver setzt Gase frei, die das Volumen des Pulvers um ein Vielfaches übertreffen. Um ein Zerplatzen des Zünders durch Überdruck zu verhindern, wurden diese Gase durch vier Bohrungen in Richtung der Zünderspitze abgeleitet. Sowohl im Innern der vorliegenden Zünder als auch an den Zünderspitzen sind Überreste des Schwarzpulverabbrandes bzw. der Abbrandgase in den entsprechenden Kanälen und Öffnungen erkennbar.
Eine derartige Zünderkonstruktion erfordert neben der ingenieurtechnischen Leistung auch Schwarzpulver von immer gleichbleibender Qualität und Abbrandgeschwindigkeit. Selbst bei diesen, eigentlich relativ einfach konstruierten Munitionsteilen sticht ins Auge, wie viele Gedanken sich Menschen nur mit einem einzigen Ziel gemacht haben und machen: Andere Menschen möglichst effizient zu töten. Bei aller Faszination für die gefundenen technischen Lösungen wäre es doch schöner, all dieser intellektuelle Aufwand würde für nicht-tödliche Verwendungen betrieben.
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