Wunderkammer Laterna Magica: moralische Erziehung vom 17. bis zum 20. Jahrhundert [76]

Ein braves Kind besucht seine kranke Großmutter und wird dabei vom hinterlistigen Wolf hinters Licht geführt. Am Ende siegt jedoch das Gute über das Böse und das unbescholtene Kind kann seinen ursprünglichen „Auftrag“ zu Ende bringen. Das typische Narrativ eines Märchens, wie wir sie schon als Kinder gehört haben und die auch heute nichts von ihrer Beliebtheit eingebüßt haben. Schauen wir uns das Beispiel von Rotkäppchen einmal in der gemalten Version an: Dieses Märchen lässt sich viermal im Bestand der Jeveraner Glasbilder finden, wobei drei Ausführungen auf den Nürnberger Spielzeughersteller Ernst Plank zurückgehen und sich daher sowohl in der Bildreihenfolge als auch stilistisch stark ähneln. Der Hersteller der vierten Rotkäppchenreihe lässt sich aufgrund eines fehlenden Firmenemblems oder Herstellerkürzels nicht feststellen. Der Unterschied in der Darstellung der Bilder besteht insgesamt nur darin, dass der unbekannte Hersteller Rotkäppchens Weg in den Wald und dem Pflücken des Blumenstraußes für die Großmutter jeweils ein Bild widmet, während Plank Rotkäppchen direkt zur Großmutter weitergehen lässt und die genannten Szenen nicht eigens illustriert. Zudem schaut der Jäger des unbekannten Herstellers durchs Fenster ins Haus der Großmutter während er bei Plank direkt neben dem Bett steht und dem Rotkäppchen in der nächsten Szene aus dem Bauch des Wolfs hilft. Trotz dieser kleinen Änderungen enden aber alle Serien jeweils mit der Szene, in der Rotkäppchen, Großmutter und der Jäger am Tisch sitzen und Kuchen essen.

Ca. ein Viertel der über 300 Glasbilder im Jeveraner Bestand zeigen Märchenerzählungen. In Märchen gibt es in der Regel einige wenige Hauptfiguren, die klar dem Guten oder Bösen zugeordnet werden können. Abgesehen davon erfüllen die Protagonisten zumeist klar die gesellschaftlichen Rollenerwartungen: Frauen sind zerbrechliche, schützenswerte und keusche Wesen, die auf die Erlösung eines Prinzen warten. Männer sind unerschütterliche und mutige Helden, die die ihnen zugedachte Jungfrau befreien und heiraten. So finden sich im Bestand des Jeveraner Schlossmuseums zahlreiche Märchen, allen voran viermal Rotkäppchen und der Gestiefelte Kater, dreimal Hänsel und Gretel, zweimal Aschenputtel und Schneewittchen sowie jeweils einmal Dornröschen, das Mädchen mit den Schwefelhölzchen, der Wolf und die sieben Geißlein, der Däumling, der alte Zauberer und die Kinder sowie der Rattenfänger von Hameln. Zwar gelten die Geschichten von Max und Moritz streng genommen nicht als Märchen, aufgrund ihres durchaus erzieherischen Charakters können diese ebenfalls im Jeveraner Bestand befindlichen Glasbilder jedoch zu der genannten Gruppe gezählt werden. Die meisten Glasbilder im Schlossmuseum, deren Herkunft aufgrund ihres Herstellersignets zeitlich in das 19. Jahrhundert eingeordnet werden können, zeugen deutlich von dem oben beschriebenen Zeitgeist. Neben Märchen finden sich viele Bildergeschichten, die in Kurzform moralisch richtiges oder verwerfliches Verhalten illustrieren wie beispielsweise an Bildern von Gänse quälenden Jungen (19017), die Wände beschmierenden (19022), sich prügelnden und zu spät kommenden Schülern (19068) sowie vor Knecht Ruprecht erzitternden Kindern (19069) zu sehen ist.

Für den Uneingeweihten musste das Lichtspiel geradezu magisch ausgesehen haben: auf einer vormals weißen Wand erscheinen wie von Zauberhand bunte Bilder, Geschichten, Nachrichten aus aller Welt oder die angeblichen Geister verstorbener Verwandter. Dabei beruht die Projektionsmethode der sogenannten „Magischen Laterne“ auf keiner großen Zauberei, sondern einfacher Physik: Im Inneren des zumeist viereckigen metallenen Behälters befindet sich eine Kerze, Öl-, oder Petroleumlampe, deren Rauch durch einen kleinen Schornstein abzieht. An der Rückwand des Behälters befindet sich ein Hohlspiegel, der die Lichtstrahlen gebündelt nach vorne wirft, wo sie auf zwei aufrechtstehende konvexe Linsen treffen. Hinter dem gemeinsamen Brennpunkt der Linsen wird ein Glasbild spiegelverkehrt und auf dem Kopf stehend eingeführt. Da die Lichtstrahlen nach Gesetzen der Optik von den Linsen gekreuzt werden, erscheint das ursprünglich „falsche“ Bild auf der Wand nun richtig herum.

Es wir oft vergessen, dass Vieles, was wir heute als optisches oder technisches „Spielzeug“ bezeichnen, ursprünglich gar nicht als solches gedacht war, sondern wissenschaftlichen Zwecken diente. Oft waren es nämlich Forscher, die physikalische oder physiologische Phänomene untersuchten und dann die entsprechenden Geräte nach ihren Erkenntnissen und für ihre jeweiligen Bedürfnisse konzipierten. Genauso verhielt es sich mit der Laterna Magica, die man als eine Abwandlung ihrer älteren „Schwester“, der Camera obscura ansehen kann. Die vormals tatsächlich betretbare dunkle Kammer wurde im Laufe der Zeit so verkleinert, dass vorzugsweise niederländische Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts sie mit sich herumtragen konnten, um im Freien ihre gewünschten Bildausschnitte abmalen zu können. Dabei beruhen sowohl die Camera obscura als auch die Laterne Magica auf dem Spiel mit Licht und Linse.

Stellvertretend für alle „Väter“ der Laterna Magica sei hier der deutschen Jesuitenpater Athanasius Kircher genannt. Um 1640 hatte er als erster die Idee, ein Bild vor statt wie bisher üblich hinter der Lichtquelle zu positionieren, wie es beispielsweise auch bei den im 18. Jahrhundert auf Jahrmärkten beliebten Guckkästen der Fall war.

Auch wenn wir die Magische Laterne heute vielleicht hin und wieder als Kinderspielzeug belächeln, galt sie zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert als eines der modernsten Medien, mit denen die öffentliche Meinung gelenkt werden konnte. So verwundert es auch nicht, dass die ersten Lichtbilder weniger zur Unterhaltung denn zur Abschreckung gedacht waren: Zur Zeit der Gegenreformation nutzten insbesondere die Jesuiten die Laterna Magica, um den Menschen in öffentlichen Vorführungen mittels grausiger Bilder von Hölle und Fegefeuer Angst zu machen und sie so zum Ein- oder Übertritt in die katholische Kirche zu bringen. Etwa zur selben Zeit „grassierte“ nämlich nicht nur der von der Kirche als ketzerisch empfundene Protestantismus, sondern auch vielerlei abergläubisches Gedankengut, mithilfe dessen sich Menschen verschiedenen Naturphänomene, Schicksalsschläge o.Ä. zu erklären suchten. In diesem Zusammenhang sind auch die damals recht verbreiteten spiritistischen Zirkel und Zusammenkünfte zu sehen, während derer die Laterna Magica dazu genutzt wurde, Dämonen zu beschwören und die angeblichen Geister Verstorbener über die Leinwand tanzen zu lassen.

Jedoch verlor die Laterne irgendwann an Schrecken, als auch ungebildete Menschen verstanden hatten, wie sie funktionierte. Daher taugte sie irgendwann „nur“ noch zu Lehrzwecken: viele von uns werden sich noch an den Overheadprojektor aus Schulzeiten erinnern, d.h. vor der Einführung neuerer Projektionsmethoden diente die magische Laterne dazu, Schülern und Studenten Lehrmaterial wie Landkarten, heimische und exotische Tiere und Pflanzen oder auch die neuesten Nachrichten aus aller Welt vorzuführen. Gleichzeitig diente sie auch immer noch als das Medium, mit dem ein bestimmtes (häufig rassistisches) Weltbild transportiert werden konnte, wie an Bildern zu sehen ist, die die Menschen in unterschiedliche „Rassen“ einteilt (siehe z.B. 19095, 19112, 19295, 19296).

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Magische Laterne neben ihrer Aufgabe als Nachrichtenmedium niemals völlig ihre moralisch-belehrende Funktion verloren hat. Angefangen von der Erziehung zum vermeintlich richtigen katholischen Glauben weg von der Beschwörung „falscher“ Geister über die wissenschaftliche Lehre und politische Berichterstattung hin zur Märchenerzählung im heimischen Kinderzimmer fand durch die Magische Laterne eine Art Demokratisierung des Wissens und der Moral von oben nach unten statt. Galt die moralische Erziehung zu Beginn vor allem den Erwachsenen, erreichten die erzieherischen Glasbilder auch die Köpfe der heranwachsenden Generation bis sie schließlich vom Kinofilm und den heute gängigen Medien überholt wurden.
Kyra Zorn

Literatur:
Christiansen, Jörn (Hrsg.): Das verführte Auge. Wege in die 3. Dimension (Ausst. Kat. Focke-Museum Bremen), Bremen 2001.
Lindner, Walter (Hrsg.): Bilder mit Geschichten – Geschichten mit Bildern. Die Glasbildsammlung des Schloßmuseums Jever und die Bilderalben des Genfer Zeichners Rodolphe Töpffer (Begleitband zur Ausstellung „Bilder mit Geschichten – Geschichten mit Bildern“ vom 21.03.-31-07.1999 im Schloßmuseum), Oldenburg 1999.
Hrabalek, Ernst: Laterna Magica. Zauberwelt und Faszination des optischen Spielzeugs, München 1985.
Thiele, Jens: „Man sieht nicht nur, sondern man erlebt.“ Die optischen Vergnügungen des 19. Jahrhunderts, in: Hoffmann, Detlef/ Thiele, Jens (Hg.): Lichtbilder, Lichtspiele. Anfänge der Fotografie und des Kinos in Ostfriesland, Marburg 1989, S. 270-287.