Abb. 1
Dies ist das älteste Stickmustertuch aus dem Bestand des Schlossmuseums Jever (Abb.1). Es stammt aus dem Jahr 1680, wie die eingestickte Jahreszahl verrät. Wer es gefertigt hat, lässt sich nicht mehr ermitteln. Es kann jedoch als sicher gelten, dass es eine weibliche Urheberin war, denn es waren fast nur Frauen bzw. Mädchen, die solche Mustertücher angefertigt haben. Sie dienten dazu, das Sticken von Buchstaben, Zahlen und Ziermotiven zu üben, die später zum Schmücken und Kennzeichnen der Wäschestücke für die Aussteuer gebraucht wurden.
Die Geschichte der Stickmustertücher reicht weit in die Vergangenheit zurück. Erste schriftliche Belege für ihre Existenz in Europa sind aus dem 16. Jahrhundert bekannt, auch einige wenige Tücher aus dieser Zeit sind bis heute erhalten geblieben. In Zentralasien hat man jedoch ein noch älteres Stickmustertuch gefunden, das vermutlich um das Jahr 850 angefertigt wurde.1 Wie alle Textilien bestehen Stickmustertücher aus organischem Material, das mit der Zeit zerfällt. Die vergleichsweise wenigen Exemplare, die von der einst vermutlich sehr großen Anzahl erhalten geblieben sind, haben daher heute einen hohen Wert für Museen und Sammler.
Über die Jahrhunderte hinweg haben sich das Format, die verwendeten Materialien und Motive verändert, die Funktion des Stickmustertuches als Merk- und Übungstuch war aber lange Zeit dieselbe. Es wurde immer wieder hervorgeholt, um Stickmuster zu kopieren und auf Haushaltstextilien aller Art zu übertragen. Als Zeugnis des handwerklichen Könnens der Stickerin wurde das Stickmustertuch zwar wie ein Schatz gehütet und oft auch an die Nachkommen vererbt, allerdings verschwand es nach der Benutzung im Nähkörbchen.2
In der Epoche des Biedermeier verlor das Stickmustertuch als reine Vorlage an Wichtigkeit, da nun auch auf Papier gedruckte Stickvorlagen für viele Stickerinnen erschwinglich waren. Die eigenen Werke wurden oft gerahmt und an die Wand gehängt. Sie dienten als textiles Zierobjekt, mit dem bürgerliche Frauen ihren Nadelfleiß zur Schau stellten.3
Das vorliegende Tuch besteht aus Leinen und ist mit farbigen Seidengarnen in Kreuzstich, Augenstich und Holbeinstich bestickt. Die Motive wurden oft von Generation zu Generation weitergegeben, daher finden sich gleiche Darstellungen auf vielen Stickmustertüchern. Im Berliner Kunstgewerbemuseum werden zwei Tücher aus dem 17. Jahrhundert aufbewahrt, die beide eine Darstellung des Himmlischen Jerusalem zeigen.4 Dieses Motiv ist auf dem vorliegenden Tuch in ganz ähnlicher Weise umgesetzt worden (Abb. 2).
Auf dem Berliner Tuch von 1651 sind weitere christliche Symbole zu sehen5, die auf unserem Tuch in abgewandelter Anordnung auftauchen (Abb. 3): Ein Passionskreuz mit der Inschrift INRI, umgeben von Gegenständen, die auf die Kreuzigung hinweisen. Darunter die Würfel, mit denen die Soldaten um den Rock Jesu losten, eine Leiter als Symbol für die Abnahme vom Kreuz, rechts daneben die Lanze, mit der Jesus verletzt wurde. Der schwarze Hahn, der auf einer Säule sitzt, könnte für die Verleugnung Jesu stehen. Gerda und Manfred Rosenstock verweisen dabei auf altchristliche Darstellungen, die den auf der Säule sitzenden Hahn zwischen Jesus und Petrus zeigen.6
Das Stickmustertuch ist bemerkenswert gut erhalten geblieben. Nur einige wenige Stiche haben sich im Laufe der Jahrhunderte gelöst. Das Motiv ist dennoch gut zu erkennen: Ein bekrönter Vogel sitzt auf einem Springbrunnen (Abb. 4). Dieses Stickbild, das links unten zu sehen ist, kommt im 17. Jahrhundert ebenfalls häufiger vor, so zum Beispiel auf einem Stickmustertuch aus dem Nürnberger Raum, das 1685 angefertigt wurde.7
Während das Alter des Tuches durch die Jahreszahl belegt ist, kann man über seine Herkunft nur Vermutungen anstellen. Die Art, in der die Blumenornamente gestaltet sind, erinnert an den Nürnberger Blumenbarock. Mit Garnen unterschiedlicher Farbnuancen wird ein sehr plastischer, geradezu malerischer Eindruck erzeugt, wie er für das barocke Ornament typisch ist.8 Die große Doppelhenkelvase mit der dreiblütigen Staude kommt häufig auch auf Stickmustertüchern aus dem Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vor, die durch ihre Wappen eindeutig zuzuordnen sind.9 Somit stammt das Stickmustertuch mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Süddeutschland und hat einen langen Weg bis nach Jever zurückgelegt.
Pamela Bastuck
Literatur:
Brunner-Littmann, Birgit / Hahn, Regula: Motiv und Ornament. Textilien aus der Sammlung ds Rätischen Museums Chur, Schriftenreihe des Rätischen Museums Chur 34, Chur, 1988.
Gockerell, Nina: Stickmustertücher. Kataloge des Bayerischen Nationalmuseums, Bd. 16, München, Dt. Kunstverlag, 1980.
Mühlbächer, Eva: Europäische Stickereien vom Mittelalter bis zum Jugendstil aus der Textilsammlung des Berliner Kunstgewerbemuseums, Berlin, Kunstgewerbemuseum, 1995.
Rosenstock, Gerda und Manfred: Alte Stickmustertücher. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Cadolzburg, Brockmann & Klett, 1995.
1 Gockerell, S.11f
2 Gockerell, S.14
3 Gockerell, S.17
4 Kat. Nr. 155 aus dem Jahr 1651, Kat. Nr. 156 aus dem Jahr 1690, Mühlbächer, S.130f
5 Mühlbächer, S.131
6 Rosenstock, S.14
7 Rosenstock, S.8 (Abbildung), S.26 (Beschreibung)
8 Brunner-Littmann / Hahn, S.33
9 Gockerell, S.48
© Schloßmuseum Jever