Unzureichende Dokumentationen archäologischer Ausgrabungen erschweren die wissenschaftliche Auswertungsarbeit erheblich. Wenn schriftliche Unterlagen und Fotos gar verschollen sind, haben die Fundstücke kaum mehr Aussagekraft als zufällig entdeckte Gegenstände aus dem Aushub einer Baugrube, einem umgepflügten Acker oder einem Maulwurfshügel.
Von mehreren Jahren Stadtkernarchäologie in Jever liegen weder der zuständigen Behörde noch dem Schlossmuseum als öffentlicher kultureller Einrichtung ordnungsgemäße Ausgrabungsberichte vor. So befindet sich im Bestand des Museums ein verhältnismäßig gut erhaltener Ledergürtel mit bronzenen Beschlägen, dessen Begleitdokumentation lediglich aus einem beiliegenden Zettel mit einer knappen Notiz besteht: laut Beschriftung soll er aus einem Grab des 11./12. Jahrhunderts vom jeverschen Kirchplatz stammen.
Dies ist bemerkenswert, da während des 8./9. Jahrhunderts nach Christus die Beigabensitte und die Bestattung in voller Tracht in Westeuropa fast vollständig aufgegeben wurden. Aus dem Hochmittelalter sind daher relativ wenig Kleidungs- und Schmuckstücke überliefert. Hochwertige Objekte stammen vorwiegend aus Depotfunden oder Kirchen- und Klosterschätzen und nur sehr vereinzelt aus Gräbern.
Eine Interpretation des vom Schlossmuseum aufbewahrten Fundstückes muss nun vor allem anhand der am Objekt selbst ablesbaren (intrinsischen) Informationen erfolgen, zumal weiterhin zu befürchten ist, dass durch einen Übertragungsfehler ein “Grabenfund” oder “Grabungsfund” zu einem “Grabfund” mutierte. Der Kirchplatz als Zentrum der auf einem Geestrücken gelegenen Altstadt spielte bei den Stadtkerngrabungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle. Bereits im Frühmittelalter befand sich hier ein Begräbnisplatz.
Ab der Zeit um 1000 erfolgte der Bau von Kirchen und die Befestigung des Areals mit Wall und Graben. Aus einem Grab, das nahe eines hochmittelalterlichen Vorgängerbaus der heutigen evangelischen Stadtkirche angelegt war, sollen die Reste des Gürtels geborgen worden sein. Die Aufschüttungen des sukzessive erhöhten Kirchhügels, aber auch die Verfüllung des Grabens bieten günstige Lagerungsbedingungen für organische Materialien, so dass durchaus auch Leder über mehrere Jahrhunderte im Boden überdauern konnte.
Erst nach einer gründlichen Restaurierung durch Ulrike Haug im Jahre 1997 waren die aufgefundenen Bestandteile des Gürtels – Riemenfragmente, Schnalle, und Appliken – gut erkennbar. Die Ringschnalle als zentrales Element weist einen runden Querschnitt und einen Durchmesser von 3,9 cm auf. Der einfache Dorn ist durch ein mittig durchbohrtes, achteckiges Bronzemedaillon geführt. Auch die zwei unmittelbar anschließenden, gleichartigen Beschläge wurden mit Bohrungen versehen und gestatteten somit das Weiterstellen des Gürtels.
Insgesamt 13 der achteckigen Scheiben mit einem Durchmesser von 2,6 cm lassen sich noch nachweisen. Außer den drei durchbohrten Beschlagplättchen sind je fünf auf zwei längeren Lederstücken aneinandergereiht. Die Beschläge sind unterschiedlich gut erhalten, teils zeigen sich nur noch Niete und die Abdrücke auf dem Leder. Auch sechs blütenförmige Appliken können teilweise nur indirekt belegt werden. Diese kleineren Beschläge mit 2,0 cm Durchmesser sind mit jeweils zwei, die größeren mit jeweils drei fest angesetzten Nieten auf dem Leder fixiert. Die Rückseiten der Niete wurden breitgehämmert und der auf das Leder wirkende Druck mittels rechteckiger Unterlegbleche verteilt.
Ein markantes Merkmal der nur einen Millimeter starken Medaillons sind die Verzierungen mit einer Metallsulfat-Legierung, so genanntem Niello. Die Mittelkreise und fünf- bzw. sechsteilige Blütenornamente sind mit derartigen Einlagen versehen. Das Rohstoff-Gemenge, häufig aus Schwefelsilber, Schwefelkupfer und Schwefelblei bestehend, wurde in Pulverform in die Vertiefungen der bronzenen Träger gefüllt. Nach dem Einbrennen musste überstehendes Material abgeschliffen und schließlich nachpoliert werden.
Die bereits seit dem ersten Jahrhundert n. Chr. bekannte Niello-Technik wurde im Hochmittelalter vergleichsweise selten angewandt. Die dunkelblauen, glänzenden Oberflächen der Gürtelbeschläge sollten möglicherweise Emailverzierungen nachahmen, die im Kunsthandwerk der Romanik weit verbreitet waren. Ein Einfluss der Goldschmiedekunst auf die Gürtlerarbeit ist dabei naheliegend, lässt sich jedoch nicht durch konkrete Beispiele belegen.
Da der Riemen des Fundstückes aus Jever nicht zusammenhängend und vollständig ist, kann die ursprüngliche Anordnung der verzierten Scheiben nur teilweise rekonstruiert werden. Die dicht nebeneinander angebrachten, achteckigen Medaillons waren mit Sicherheit auf der Vorderseite befestigt, wo sie am besten zu sehen waren. Sie gruppierten sich beidseitig der Schnalle. Die blütenförmigen Beschläge wurden jeweils einzeln mit spärlichen Lederresten geborgen, so dass sie vielleicht in größeren Abständen auf der Taille bzw. auf dem Rücken saßen.
Gürtel mit aufgereihten Beschlägen sind auf romanischen Skulpturen zu erkennen, beispielsweise dem so genannten Schoßgeiger aus der Zeit um 1200 im Kölner Schnütgen-Museum. Genaue Entsprechungen sind jedoch aus der Romanik ebensowenig bekannt wie aus anderen Zeitabschnitten. Bilddarstellungen und überlieferte Prunkgürtel des Spätmittelalters zeigen einzelne Merkmale des Fundes aus Jever, so etwa einen dichten Besatz mit blütenartigen Plättchen. Die Fünf- bzw. Sechsteiligkeit der Ornamentik ist gegenüber einer kreuzförmigen, radialsymmetrischen Aufteilung selten. Runde Schnallen der hier vorliegenden Größe kommen sowohl im hohen als auch im späten Mittelalter vor. Eine genauere chronologische Eingrenzung von Herstellungs- und Nutzungszeit des Fundobjekts ist also ohne gesicherte und detaillierte Angaben zu den Fundumständen nicht möglich.
Leibgürtel umschlossen im Mittelalter meist die Taille. Sie dienten dabei nicht nur dem Zusammenhalten der Kleidung und dem Befestigen von Gebrauchsgerät, sondern auch der Repräsentation und der Demonstration des sozialen Status’. Die aufwendige Fertigungstechnik des jeverschen Museumsobjektes deutet darauf hin, dass der Träger einer gehobenen Schicht angehörte, ob er nun Bewohner des Handelsplatzes Jever oder Fremder war.
Bereits seit der Antike besaßen Gürtel in verschiedener Hinsicht Symbolcharakter. Besonders ausgeprägt war der symbolische Gehalt im Mittelalter, als Leibgürtel für Kraft und Herrschaft, Ehrenhaftigkeit und Würde, auf der anderen Seite für Liebe und eheliche Treue stehen konnten. Auch magische und apotropäische Vorstellungen waren in diesem Zusammenhang weit verbreitet, sie äußerten sich etwa in der Berührung von Reliquien mit dem Gürtel. Sogar im Rechtswesen und in der Medizin spielten derartige Trachtbestandteile eine Rolle. Auslegungen hinsichtlich des Symbolgehaltes sind jedoch bei dem Objekt aus dem Schlossmuseum kaum möglich.
Ebensowenig ist zu entscheiden, ob der Gürtel Hose und Rock eines Mannes oder das Kleid einer Frau zusammengehalten hat. Vielleicht lassen die Grabungsunterlagen weiterführende Interpretationen zu, doch solange diese verschollen bleiben, muss das seltene archäologische Fundstück aus Jever für sich sprechen.
Falk Nicol
© Schloßmuseum Jever