Der regelmäßige Besucher des Schlosses in Jever mag überrascht sein, das erste “Objekt des Monats” im Jahr 1990 nicht am gewohnten Ort im Eingangsbereich des Museums vorzufinden. Das liegt daran, daß sich der überwiegende Teil der umfangreichen Sammlung niederländischer Wandfliesen fest eingebaut an den Wänden der Räume “Fliesenzimmer”, “Jeversche Küche” und “Jeversche Ratsstube” im Erdgeschoß des Schlosses befindet. Hier gelangten die Fliesen hin, nachdem sie im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts auf den Marschhöfen des Jeverlandes ihre ursprüngliche Funktion und Beliebtheit langsam einbüßten, die sie mindestens zwei Jahrhunderte hindurch zu einem prägenden innenarchitektonischen Element der hiesigen Region gemacht hatten.
Als die von mehreren Höfen zusammengetragenen Fliesenbestände in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts im Schloß neu verlegt wurden, hat der Handwerker ziemlich willkürlich Fliesen aus einem Zeitraum von etwa 250 Jahren mit unterschiedlicher manufaktureller Herkunft und mit sehr verschiedenen Motiven auf engstem Raum nebeneinander angeordnet und somit – wahrscheinlich unbewußt – einen Sachverhalt geschaffen, der für die Gegend recht typisch war: Zweit- und Drittverlegungen in einem Haus und Ersatzbeschaffungen für zerstörte Fliesen schufen vielfach ein uneinheitliches Bild an den Wänden friesischer Marschhöfe (Marggraf 1984: 49).
Die Tatsache, daß sich die niederländischen Wandfliesen in unserem Raum im Bereich der Marsch konzentrieren, hat mehrere Ursachen: die marktorientierte Produktionsweise der Marschbauern und der damit verbundene Wohlstand erlaubte ihnen schon früh den Erwerb von Luxusartikeln auch für den Wohnbereich. Darüber hinaus gestaltete sich der Transport von Fliesen aus den Niederlanden über den Seeweg und die Sielhafenorte für die damaligen Verhältnisse denkbar unkompliziert. Hauptursache für die frühe Verwendung von Fliesen in der Marsch ist jedoch der ständige Kampf gegen die in den Wänden aufsteigende Feuchtigkeit und das Ausblühen von Salpeter, das durch kein anderes Baumaterial bis zur Jahrhundertwende wirksam gebremst werden konnte (Marggraf 1984: 49). “Die Fliesen wurden häufig an den rundumlaufenden Außenwänden eines Hauses vom Boden bis zur Decke verwendet. Sie wurden stets knirsch verlegt, also ohne direkte Fuge, da genügend aushärtendes Fugenmaterial unbekannt und der Zement noch nicht erfunden war” (Marggraf 1984: 49).
Niederländische Wandfliesen in der Küstenmarsch waren also ein den physisch – geographischen Erfordernissen angepaßtes, relativ leicht beschaffbares Baumaterial, dessen künstlerische Ausgestaltung Ausdruck des bäuerlichen Wohlstands war.
Der größte Teil der im jeverschen Schloß vorhandenen Fliesen wurde in Manufakturen in Harlingen hergestellt, einer westfriesischen Stadt, die traditionell eng mit Jever verbunden gewesen ist und wo heute der den historischen Bedingungen nachempfundene Produktionsprozeß der Fliesen in der Manufaktur von Henk Oswald wieder beobachtet werden kann. Die in einem komplizierten Verfahren aus besonderem Ton gefertigte und einmal gebrannte Rohfliese wird weiß glasiert und dann bemalt.
Dazu verwendet der Fliesenmaler in aller Regel eine “Sponse”, das heißt eine Schablone aus einem pergament-ähnlichen Papier, auf dem Umrißlinien in Form einer Perforation eingestochen sind. Als Vorlage für Sponsen dienten häufig Bilder und Illustrationen aus Büchern. Holzkohlestaub, der sich in einem kleinen Leinenbeutel befindet, gelangt durch Abtupfen der Schablone auf die darunter liegende glasierte Fliese, so daß Umrisse in Form einer punktierten Staublinie sichtbar werden. Auf dieser Linie zieht der Maler Umrisse mit der Fliesenfarbe; es folgt das Aufbringen von Schattierungen und individuellen Ausgestaltungen. Die Sponsen sorgen für ein hohes Maß an Normierung zwischen Fliesen mit gleichem Motiv. In Harlingen sind historische Sponsen erhalten geblieben und werden teilweise noch heute verwendet. Das letzte Glied in dem aufwendigen Produktionsprozeß bildet der zweite Brand (Pluis 1979/2: 7 f.)
Jan Pluis schlägt folgende Grobeinteilung von niederländischen Wandfliesen in Abhängigkeit von den dargestellten Motiven vor (Pluis 1984: 12 f.):
1. Weiße Fliesen
2. Blumenvasen
3. Blumen
4. “Dreitulp”, Kissen
5. Landschaften
6. “Springertjes” (Tierfliesen)
7. Kinderspiele
8. Bibelfliesen
9. handwerkliche Berufe
10. Ornamentfliesen
11. Randfliesen
12. Marmorfliesen
Für alle Gruppen finden sich Beispiele im Schloßmuseum; leider sind die teilweise sehr ausgefallenen Fliesen in den eingangs erwähnten Räumen im Erdgeschoß nur aus der Ferne zu betrachten. Wir schlagen deshalb dem interessierten Museumsbesucher vor, sich die in vieler Hinsicht interessante Fliesenwand gegenüber der Bibliothek im Dachgeschoß aus der Nähe anzusehen. Vermutlich sind hier Reste verarbeitet worden, die in den repräsentativeren Räumen des Erdgeschosses keinen Platz mehr finden konnten.
Bei der Bebilderung dieses Textes haben wir uns auf Beispiele aus der Kategorie “Kinderspiele” aus dem 19. Jahrhundert beschränkt, die sich an der erwähnten Wand gegenüber der Bibliothek befinden. Leicht zu erkennen sind die Spiele “Wippen” und “Seilspringen”, die auch heute noch in unserem Raum verbreitet sind. “Laufen mit der Windmühle” und “Knöcheln” sind jedoch aus der Mode gekommen oder hatten in unserem Raum niemals Bedeutung (vgl. Pluis, 1979/1, S. 174 f.) Vielleicht haben Sie Lust, weitere Spiele zu identifizieren; ähnlich kreativ könnte sich die Deutung von Fliesen mit biblischen Motiven oder – gerade auch für Kinder – von Tierdarstellungen (“Springertjes”) gestalten.
Detlef Pohl
Literatur:
Heinemeyer, E.: Wand- und Bodenfliesen im Landesmuseum Oldenburg; Ausstellungskatalog, Oldenburg 1988.
Marggraf, R.: Vorkommen niederländischer Fayencefliesen in Nordwestdeutschland; in: Niederländische Wandfliesen in Nordwestdeutschland. Bramsche 1984, S. 40 ff.
Pluis, J.: Kinderspeien op tegels, Assen 1979 (l).
Pluis, J.: Kinderspiele auf Fliesen; Ausstellungskatalog, Leeuwarden/ Hamburg 1979 (2)
Pluis, J.: Der Export von Makkumer Fliesen nach Nordwestdeutschland; in: Niederländische Wandfliesen in Nordwestdeutschland, Bramsche 1984, S. 10 ff.
© Schloßmuseum Jever