Es scheint nicht schwer, die Puppe mit dem glasierten Porzellanbrustkopf der Zeit ihrer Entstehung zuzuordnen. Haben doch Trödelmärkte, Antiquitätengeschäfte oder auch die Geschenkboutiquen mit ihrem Sortiment an nostalgischem Zierat für ihre große Bekanntheit gesorgt. Dem einen läßt sie das Sammlerherz höher schlagen, bei anderen eine vage Vorstellung von der “guten alten Zeit” aufkommen.
Bestimmt war diese Puppe einst für den Raum, den die bürgerliche Gesellschaft sich – endgültig im 19. Jahrhundert – eingerichtet hatte: die vom öffentlichen Leben, von der Arbeitswelt und den Geschäften weitgehend getrennte Sphäre des Privaten, der Familie. Dieser Bereich sollte Gegenpol sein zur rauhen Wirklichkeit der ökonomischen Zwänge, der Konkurrenz, der zehrenden Arbeitsdisziplin und des wachsenden Leistungsdruckes im einsetzenden industriellen Zeitalter. Er sollte Ort der beschaulichen Innerlichkeit und der menschlichen Wärme sein, für dessen Klima die fürsorgliche Hausfrau und Mutter verantwortlich wurde.
Die zunehmende Intimisierung und Emotionalisierung hatte zu neuen, ausgesprochen bürgerlichen Erfahrungs- und Lernbereichen geführt. Das Phänomen Kindheit, das es in einer über das Kleinkindalter hinausreichenden Form vorher nicht gegeben hatte, gehörte dazu. An seiner sinnlichen Ausgestaltung waren vor allem das Spielzeug und für das Mädchen eben zuerst auch Puppen wie die vorstehende auf eine durchaus intensive Weise beteiligt. Schon der Werkstoff Porzellan, der seit etwa 1830 für die industrielle Fertigung von Puppenteilen verwendet wurde, mußte sich auf den Umgang mit diesem Spielzeug auswirken. Das leicht zerbrechliche Material ließ -wenn überhaupt – nur ein äußerst zurückhaltendes, diszipliniertes Bespielen zu.
In der Beschränkung auf das Wechseln der Garderobe, auf das sorgsame Zu-Bett-Bringen oder auf einen sonntäglichen Spaziergang scheint eine solche Puppe eher für die lehrhafte Anschauung als für ein ausgelassenes Spiel vorgesehen gewesen zu sein. Auch unsere Puppe weist fast keine Spuren eines Gebrauchs auf. Mehr noch als das Material selbst wird wohl die Gestalt der Puppe, die sich am Bild der erwachsenen Frau orientiert, über das Spiel ihren Einfluß genommen haben. Einer detailreichen Gestaltung kam das formbare Porzellan entgegen. In der kunstvoll modellierten, typisch biedermeierlichen Haartracht, in den durch eine sparsame Bemalung hervorgehobenen Gesichtszügen oder auch in den der Iris aufgesetzten Lichtern – in all dem ist das Bemühen von Modelleur und Maler spürbar, ein wirklichkeitsgetreues Abbild zu schaffen. Dennoch verwandelt sich das kunstvoll Gestaltete beständig in leblos wirkende Künstlichkeit. Die Ursache dafür scheint in der Beschränkung auf einfachste Zeichen zu liegen, wie sie ein rationell gestalteter Herstellungsprozeß erforderlich machte.
Gerade in der Vereinfachung aber, weil sie Typisches zum Ausdruck bringen will, offenbart sich ein Bild der bürgerlichen Frau, das auch in vielen zeitgenössischen Darstellungen zu finden ist. Die elegante Strenge der Frisur verbindet sich mit dem abwesend wirkenden, in einer unbestimmten Ferne erstarrenden Blick, die vornehme Blässe des porzellanenen Gesichts mit dem “unschuldigen” Rouge der Wangen, der damenhafte Gesamteindruck mit den kindlich anmutenden Rundungen und Grübchen der Kinnpartie. Die Exporteure dieser Ware sorgten dafür, daß die Puppen dem jeweiligen Zeitgeschmack entsprachen. Sie ließen sich die bekanntesten Modejournale kommen und konnten so den Herstellern genaue Vorgaben für Aussehen und Kleidung der Puppen machen. Auch unsere Puppe scheint mit dem in der Taille enggeschnürten Lederbalg den modischen Vorstellungen der letzten Jahrhundertmitte entgegenzukommen. In seiner “Illustrierten Sittengeschichte” zeichnet E. Fuchs das folgende Bild:
“Mehr als den Busen outrieren ist nur möglich mit Hilfe der natürlichen Tailleneinschnürung in der Kleidung. Also rückte man mit der seitherigen Körpereinschnürung, die in der Revolutionsmode bis unter den Busen hinaufgerückt war, allmählich wieder hinab. Im Jahre 1820 war dieses Ziel erreicht. Mit Hilfe des Korsetts, dessen Blütezeit jetzt begann, konnte man nun nicht nur bloß vom Busen jede Gestalt vortäuschen, sondern außerdem die Hüften und Lenden den Blicken demonstrieren. Auf diesem Wege gelangte man zuerst wieder zur sogenannten Wespentaille, die den Körper förmlich in zwei Hälften zerschnitt. Die verschämte Lüsternheit der Biedermeierzeit hat hier zum ersten Male förmlich Orgien gefeiert.” (S. 201f.)
Mochte sich das Kind mit seiner Phantasie auch leicht über solche Vorgaben hinwegsetzen, so waren sie dennoch stets im Spiel gegenwärtig und haben an der Übernahme eines Frauenbildes mitgewirkt, das auch heute noch zu finden ist.
Peter Schmerenbeck
Literatur:
Cieslak, Jürgen u. Marianne: Puppen – Gütersloh 1985.
Fuchs, Eduard: Illustrierte Sittengeschichte. III. Bd. Berlin o. J.
Pohl-Weber, Rosemarie: Kinderkultur. Bremen 1987.
Weber-Kellermann, Ingeborg: Die deutsche Familie. 6. Aufl. Frankfurt/M. 1981.
Weber-Kellermann, Ingeborg: Frauenleben im 19. Jahrhundert. 2. Aufl. München 1988.
© Schloßmuseum Jever