In der Sammlung des Schloßmuseums befindet sich eine große Anzahl von Trachtenpuppen, die 1935 im Rahmen eines Wettbewerbs entstanden sind. Bei diesem Wettbewerb, der vom Jeverländischen Altertums- und Heimatverein in Zusammenarbeit mit dem “Ortsring des Reichsbundes für Volkstum und Heimat” veranstaltet wurde, sollten Puppen mit Nachbildungen von niederdeutschen Trachten bekleidet werden; die preisgekrönten Einsendungen sollten “…den Grundstock bilden für eine im Heimatmuseum in Jever einzurichtende Sammlung von Volkstrachtenpuppen. Zudem … [sollte] durch die Veranstaltung dieses Wettbewerbs das Interesse geweckt werden für die Beschäftigung mit den schönen deutschen Volkstrachten” (Jeversches Wochenblatt, Ausschreibung des Wettbewerbes am 12.3.1935).
Unter den verschiedenen dargestellten Trachten fällt die Neue Jeverländische Frauentracht kaum ins Auge; sie wurde von dem jeverschen Textilkaufmann Fritz Bulling zusammen mit Lehrerinnen der Stadtmädchenschule Jever entworfen und bei dem Wettbewerb mit einem drittrangigen Preis ausgezeichnet. Die offensichtlich vorgefertigte Stoffpuppe mit bemaltem Kopf aus Papiermache und Echthaar hat eine Größe von 52 cm. Ihr Kleid besteht aus einem blauen gekräuselten Rock und einer kurzärmeligen Bluse mit Schößchen, dazu trägt sie schwarze Schuhe, eine weiße Schürze, ein weißes dreieckiges Schultertuch (Timpentuch) und ein blaues Kopftuch. Die Säume von Rock und Kopftuch sowie von Schürze und Timpentuch sind mit jeweils identischer Stickerei versehen.
Die schlichte blauweiße Kleidung fällt neben den reichverzierten, spektakulären Kostümen der anderen Puppen kaum ins Auge; sie zeichnet sich jedoch durch eine Besonderheit vor den anderen Trachtenpuppen besonders aus. Im Gegensatz zu ihnen ist ihr Kostüm nicht einer alten Tracht nachempfunden, es stellt vielmehr den Vorschlag für eine in Jever einzuführende Frauentracht dar, die auch heute noch von einzelnen Jeveranerinnen zu bestimmten Anlässen getragen wird.
Schon während des Ersten Weltkrieges wurden im Kaiserreich ländliche Trachten als Vorlage für eine als “deutsch” empfundene Kleidung ausgewertet und beispielsweise Dirndlkleider für die weibliche Bevölkerung empfohlen. Ein nationaler Kleidungsstil sollte den Einfluß der ausländischen Mode verdrängen, die aus gesundheitlichen, ästhetischen, wirtschaftlichen, moralischen und nationalen Überlegungen heraus immer wieder angegriffen worden war.
Wie in vielen anderen Bereichen nahm der Nationalsozialismus auch auf dem Gebiet der Kleidung Strömungen der vorhergehenden Zeit auf. Zwar wurde von Volkskundlern wie Eugen Fehrle und Hans Strobel die Meinung vertreten, daß die Funktion der sogenannten Volkstrachten hinreichend von den Uniformen der verschiedenen nationalsozialistischen Organisationen erfüllt werde, gleichzeitig wurde jedoch auf unterer Ebene die Trachtenfrage eng mit der nationalsozialistischen Ideologie verknüpft: Mit der starken Betonung des Bauernstandes im Rahmen der Blut-und-Boden-Ideologie rückten ländliche Trachten in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, vor allem durch ihre massive Präsenz in den Medien. Damit wuchs in vielen Gebieten der Wunsch nach Wiederbelebung oder Neueinführung einer Tracht.
Im Rahmen der “angewandten Volkskunde” wurde daher die Neuschöpfung von Trachten betrieben, wobei aber die Orientierung an alten Vorlagen oder dem, was man dafür hielt, nur eine untergeordnete Rolle spielte.
Die Rohstoffe für die Kleiderherstellung sollten nach Möglichkeit selbst angebaut, gesponnen und gewebt werden. In den vielfach eröffneten Spinn- und Webstuben sollten diese “uraltgermanischen Handfertigkeiten” im Rahmen von Spinnstubenabenden wiederbelebt werden. Die ideologisch aufgeladenen Tätigkeiten des Spinnens und Webens (“Im Spinnen und Weben liegt der Schlüssel der germanischen Weltauffassung”, Reichsminister Bernhard Rust 1935) hatten allerdings einen handfesten ökonomischen Hintergrund: Wegen der anhaltenden Devisenknappheit waren dem Deutschen Reich wenig Importe möglich, so daß auch im Bereich der Kleidung die Eigenherstellung Abhilfe schaffen sollte.
Tatsächlich war auch der Trachtenpuppenwettbewerb in Jever mit ähnlichen Zielen verbunden. Der Jeversche Altertums- und Heimatverein gab mehrmals seiner Hoffnung Ausdruck, “…daß man auf dem Wege über einen solchen Wettbewerb auch zu der Wiedererweckung einer arteigenen und heimatgemäßen Volkstracht auch in unserem Jeverland kommt” (JW 9. 2. 35). So ist es nicht weiter verwunderlich, daß der Einsender der Neuen Jeverländischen Frauentracht selbst Vorstandsmitglied des Heimatvereins war.
Als Preisrichter des Wettbewerbs fungierte der oldenburgische Maler Bernhard Winter, der als Anerkennung für seine Künstlertätigkeit den Professorentitel erhalten hatte. Winter besaß eine eigene Trachtensammlung und hatte schon 1913 den Aufsatz “Unsere heimische Volkstracht” veröffentlicht. Darin bedauert er den Verfall der ländlichenTracht, die “…eine uralte Tracht überliefert, die sich … sowohl gesundheitlich, als auch praktisch für die Arbeit bewährt hat und durch ihre Gediegenheit sittlich wirkt” (S. 350). Scharf verurteilt er dagegen die Kleidung a la mode: “Flatterhaft, formverzehrend, aufdringlich, artet die schematische Mode immer von neuem zur Spottgeburt aus…” (S.335).
Bei dem Entwurf für die Neue Jeverländische Frauentracht hatte man sich durchaus an der Beschreibung orientiert, die Bernhard Winter in seinem Aufsatz von der ehemals im oldenburgischen Raum üblichen Tracht gab. Änderungen waren vor allem die Beschränkung auf ungemusterte blaue und weiße Stoffe als Anspielung auf die jeverschen Stadtfarben sowie die Verkleinerung des Timpentuchs und der Austausch der Haube gegen ein Kopftuch, wodurch die Herstellung erleichtert und die Bequemlichkeit erhöht wurde. In diesem Sinne äußerte sich auch die Rektorin der Stadtmädchenschule Grete Carls am 23. 3. 1936 im Jeverschen Wochenblatt: “…(Die Zukunftstracht) muß sich an die Überlieferung soweit anlehnen, wie es möglich ist. Aber alles, was sich mit unserer heutigen Anschauung und den Forderungen der Hygiene und Lebensweise nicht vereinbaren läßt, muß dabei selbstverständlich fortbleiben. Was an guter Überlieferung von dem Alten übernommen werden kann, wollen wir jedoch überleiten in das Kommende.”
In der folgenden Zeit wurde dann die Einführung der Neuen Jeverländischen Frauentracht massiv propagiert. Die oberste Klasse der Stadtmädchenschule fertigte die Tracht im Handarbeitsunterricht an und weihte sie zur “Tausendjahrfeier” Jevers im Juni 1936 ein. Auch die übrige Bevölkerung wurde zur Anfertigung der Neuen Jeverländischen Frauentracht angeregt, was vor allem durch entsprechende Artikel und Erfolgsmeldungen im Jeverschen Wochenblatt erfolgte, in dem auch die Trachtenfrage an sich diskutiert wurde. So hieß es allgemein zum Thema der ländlichen Trachten: “… der Bauer, der am stetesten mit der Scholle verwurzelte Hauptträger und Hüter völkischer Kraft, (trägt) auch eine aus deutscher Art, aus seiner Stammesart hervorgewachsene Tracht…, die seinem Wesen und Eigenart [sic] entspricht…” (6. 6. 35); und zur Eröffnung der Ausstellung der preisgekrönten Einsendungen wurde am 17. 6. 1935 angemerkt: “Wenn es gelingt, der heimatlichen Volkstracht wieder ihren Ehrenplatz zu verschaffen, ist der vornehmste Zweck dieses Wettbewerbs erfüllt.”
Die Neue Jeverländische Frauentracht wurde in Handarbeit mit selbstentworfenen Stickereien hergestellt, es wurden aber keine selbstproduzierten Stoffe verlangt, sondern Gminder Halbleinen und Seidenleinen verwendet. Allerdings erging im Zusammenhang mit dem Trachtenpuppenwettbewerb an die Bauern des Jeverlandes der Aufruf, “…die Schafzucht zu vergrößern und den Flachs- und Hanfanbau zu pflegen” und sich wieder dem Spinnen und Weben zu widmen (JW 28. 2. 35).
Außer den Schülerinnen der Stadtmädchenschule, die sich der Anfertigung im Handarbeitsunterricht kaum entziehen konnten und für die das Anlegen der Tracht zur “Tausendjahrfeier” Pflicht war, haben nur wenige Frauen die Neue Jeverländische Frauentracht als Festkleidung für sich selbst oder für ihre Kinder angefertigt. Vielen Jeveranerinnen wird das Geld für die Anschaffung oder die Zeit für die Herstellung gefehlt haben, vor allem aber stand der Durchsetzung eines im Wege: Die Allmacht der Mode, der sich auch das obrigkeitsverpflichtete Organ Zeitung nicht entziehen konnte. Neben aller Propaganda für die Neue Jeverländische Frauentracht stellte das Jeversche Wochenblatt in der Beilage “Von Frauen für Frauen” regelmäßig die neuesten Modetrends vor, deren Auswirkungen auch das Kleidungsverhalten in Jever entscheidend mitbestimmten.
Gudula Mayr
Quellen und Literatur:
Carls, Grete: Neue jeverländische Frauentracht. In: Heimatlese für Schule und Haus zwischen Weser und Ems. Hg. vom NS-Lehrerbund Gau Weser-Ems, Heft 9, Juni 1936, S. 209-210.
Deneke, Bernward: Modekritik und “deutsches” Kleid in der Zeit der Weimarer Republik. Zur Vorgeschichte der Trachtenpflege im Nationalsozialismus. In: Jahrbuch für Volkskunde 1991, S. 55-78.
Jacobeit, Sigrid: Die Wandlung vom “bäuerlichen Kleid” zur Kleidung von Klein-und Mittelbäuerinnen im faschistischen Deutschland 1933 bis 1945. In: Museum für Volkskunde. Kleidung zwischen Tracht und Mode. Aus der Geschichte des Museums 1889-1989. 0.0. o. J. (Berlin nach 1988), S. 145-151.
Jeversches Wochenblatt, Jahrgänge 1935 und 1936.
Schmitt, Heinz: Theorie und Praxis nationalsozialistischer Trachtenpflege. In: Volkskunde und Nationalsozialismus. Referate und Diskussionen einer Tagung der Gesellschaft für Volkskunde. Hg. von Helge Gerndt, München 1987 ( Münchner Beiträge zur Volkskunde, Band 7).
Winter, Bernhard: Unsere alte Volkstracht. In: Heimatkunde des Herzogtums Oldenburg. Hg. vom oldenburgischen Landschaftsverein unter Redaktion von W. Schwecke, W. von Busch, H. Schütte. Bremen 1913, S. 335-351.
Für mündliche Auskünfte danke ich Herrn und Frau Rastede, Jever.
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