In diesem Monat erwartet uns ein ungewöhnliches “Objekt des Monats”: Diese Bleistiftzeichnung von der Jahrhundertwende stellt im Hintergrund die Synagoge in der Großen Wasserpfortstraße in Jever um 1880 dar und ist eine der wenigen Abbildungen des Gebäudes überhaupt. Sicherlich wissen die wenigsten von der Existenz einer Synagoge an diesem Ort – schließlich sind kaum Spuren in Jever vorzufinden, die auf sie verweisen. Wie schnell wird die kleine, unauffällige Gedenktafel am Haus in der Gr. Wasserpfortstraße 19 übersehen, die an den Pogrom vom 9./10. November 1938 erinnern soll, an dem die Synagoge unter der Nazi-Herrschaft völlig zerstört wurde. Wer weiß außerdem, daß auf dem jüdischen Friedhof in Schenum ein Mahnmal existiert, welches aus zwei Steinen des alten Gotteshauses besteht?
Um die Geschichte dieser Synagoge bis in ihre Ursprünge, nämlich den Beginn einer jüdischen Gemeinde in Jever, zurückzuverfolgen, müssen wir uns ins 17. Jahrhundert begeben. 1698 erhielten Meyer Levi und seine Familie einen Schutzbrief vom Fürsten Carl-Wilhelm von Anhalt-Zerbst, der sie zum Mieten (jedoch nicht zum Kaufen) einer Wohnung sowie zum Aufenthalt in Jever berechtigte.
Über die folgenden siebzig Jahre erstreckte sich ein immer wieder aufflammender Konflikt zwischen den in Jever ansässigen Juden und der Landesregierung über die Abhaltung von Gottesdiensten. Während die jüdische Gemeinde auf die Ausübung ihrer religiösen Gebräuche beharrte und damit ihren Wert für sich unterstrich, wurden ihre Gottesdienste von der Obrigkeit offiziell verboten. Erst im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts löste sich dieser Konflikt durch die Lockerung der Bestimmungen zur Religionsausübung unter Friedrich August von Anhalt-Zerbst. Nun konnte 1779 endlich offiziell das erste Bethaus in der Lohne eröffnet sowie ein größerer Friedhof in Schenum angelegt werden.
Die Landesregierung ging sogar noch einen Schritt weiter und nahm eine aktive Beschützerrolle für die Juden ein. Die jüdischen Bürger Jevers erwarben daraufhin ein Grundstück an der Gr. Wasserpfortstraße, um auf ihm ihre erste Synagoge zu bauen und im Januar 1802 einzuweihen.
Auch auf allen anderen Ebenen schritt die Emanzipation merklich voran: Jüdische Kinder wurden in die allgemeinbildenden Schulen integriert; Vereine wurden gegründet (z. B. 1860 der “Israelitische Wohltätigkeitsverein); jüdische Gemeindemitglieder suchten selbst Anschluß an jeversche Vereine; in der Kommunalpolitik beteiligten sich ebenfalls Juden. Kurzum: Die vorherige Ausgrenzung durch Sonderbestimmungen und Diskriminierungen schien sich aufzulösen.
In diesem Stimmungsfeld war es nicht verwunderlich, daß die mittlerweile ca. 200 Mitglieder zählende jüdische Gemeinde 1879 einen Neubau der Synagoge anstrebte, den sie tatsächlich ein Jahr später verwirklichen konnte. Die Errichtung des Gebäudes zeigte den hohen Status der Juden in der Stadt sowie deren Emanzipations- und Assimilationsgrad auf: Der Bürgermeister legte den Grundstein; der Großherzog gab einen finanziellen Zuschuß; der Kultusminister kam zur Einweihung; einige hundert christliche Einwohner nahmen an der Einweihung, der anschließenden Festtafel und dem abendlichen Ball teil.
Die abgebildete und im Schaukasten ausgestellte Zeichnung stellt die angeblich stilvollste und schönste Synagoge des Oldenburger Landes dar. Sie war leicht zurückgesetzt von der Gr. Wasserpfortstraße, ca. 35 m hoch, und bestand aus roten Backsteinen. Das Dach wurde von einer maurischen Kuppel, bestehend vor allem aus sechs großen Bogenfenstern, gekrönt. Auf ihr befand sich ein Davidsstern. In der Mitte der Vorderfront (über den Dachsims herausragend) waren zwei Tafeln mit hebräischen Schriftzeichen festgemauert.
Während noch im l. Weltkrieg acht Jeveraner Juden fürs “deutsche Vaterland” starben, kamen schon bald nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und der Gründung der Weimarer Republik (latent vorhandene) deutschvölkische und antisemitische Tendenzen offen zur Erscheinung. Ihre Hauptvertreter waren zum einen Lehrer im jeverschen Mariengymnasium, zum anderen Mitarbeiter des “Jeverschen Wochenblatts”, das schon Anfang der 1920er Jahre unter Friedrich Lange rechtsradikale Meinungen vertrat. Die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder verringerte sich drastisch von 188 (1910), über 118 (1925) auf 98 (1933). Einerseits wanderten vor allem junge Juden aus wirtschaftlichen Gründen (Strukturschwäche des Jeverlandes, Wirtschaftsdepressionen der Weimarer Republik) in die Großstädte ab, andererseits veranlaßte das antisemitische Klima einige jüdische Bürger dazu, ab 1929 Jever zu verlassen.
Doch nicht erst die sog. Reichskristallnacht hatte die Zerstörung jüdischen Gemeinguts zur Folge: bis 1938 gab es mehrere Hakenkreuzschmierereien und es wurden ungefähr ein dutzendmal die Fenster der Synagoge eingeworfen. Gottesdienste konnten zeitweise nicht mehr gefeiert werden, da kein Geld vorhanden war, die Fenster zu reparieren.
Das endgültige Ende dieses Gotteshauses setzte der Pogrom vom 9./10. November 1938. Am frühen Morgen des 10. November wurde die Synagoge durch Brandstiftung der NSDAP gänzlich zerstört. Die SA verhaftete fast alle männlichen Juden und brachte sie “unter Johlen und Schreien” einer Menge von Menschen zum Gerichtsgefängnis. Es folgten sog. Beschlagnahmeaktionen von jüdischen Wohnungen und Geschäftshäusern, die die SA, die HJ und Zivilisten mit exzessiven Plünderungen begleiteten. Die verhafteten Männer wurden am Tag darauf nach Oldenburg verschleppt, von wo man sie nach Sachsenhausen transportierte. Die meisten von ihnen kamen schon im Nov./Dez. wieder frei, wahrscheinlich deshalb, weil ihre Angehörigen Ausreisepapiere für sie vorlegen konnten. Von den 50 jüdischen Bürgern, die 1938 in Jever lebten, konnten noch 12 ins Ausland fliehen. Insgesamt 77 jeversche Juden wurden ab 1938 von den Nazis ermordet.
1939 kaufte ein Bauunternehmer die ehemalige Synagoge, ließ jedoch bis auf weiteres den Platz mit der Ruine unverändert. Die Stadt Jever errichtete daraufhin einen Bretterzaun mit einem “neutralen Farbanstrich”, um die Einwohner und Besucher Jevers nicht in ihrem “ästhetischen Empfinden” zu verletzen …
Nachdem die britische Besatzung sofort nach Kriegsende sämtliche Haupttäter des jeverschen Pogroms interniert hatte, wurde im März 1949 das Verfahren gegen sie eröffnet. Es endete mit Freispruch für die der “Synagogenbrandstiftung und Verbrechens gegen die Menschlichkeit” Angeklagten. Der Oberstaatsanwalt von Oldenburg ging jedoch in Revision, so daß der Prozeß gegen mittlerweile 17 Beschuldigte im Dezember 1950 erneut das Gericht und die Jeveraner Öffentlichkeit beschäftigte. Der Richter ließ sich diesmal nicht auf die Argumentation der Angeklagten ein und verurteilte neun von ihnen zu Haftstrafen von 10 bis 30 Monaten, während sieben Verfahren eingestellt und ein Beschuldigter freigesprochen wurde.
Im Oktober 1953 gelang es sogar sechs Verurteilten, per Revision eine Minderung der Strafe um 16,5 % zu erreichen: die Entnazifizierung war abgeschlossen, der “normale Alltag” hatte Einzug gehalten. Als Erich Levy, ein Jeveraner Jude, kurz nach Kriegsende zurück nach Jever kam, überreichte die Stadt ihm zwei Steine der zerstörten Synagoge. Er ließ sie 1961 auf eigene Kosten zu einem Mal zusammenfügen und auf dem jüdischen Friedhof errichten. Nach zwei Jahrzehnten Nicht-Beachtung dieses Mals legt der SPD-Ortsverein nun seit 1985 jährlich einen Kranz zum Gedenken an die Opfer des Nazi-Regimes nieder. Am 9. November 1978 wurde dann endlich (40 Jahre nach dem Pogrom!) eine Gedenktafel am Haus in der Gr. Wasserpfortstraße 19, dem ehemaligen Standort der Synagoge, eingeweiht.
Die einstige Blütezeit der jüdischen Gemeinde Jevers ist längst vergessen, vergraben unter dem Schutt der Nazi-Diktatur, verdrängt in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg, lediglich in Erinnerung gerufen durch zwei stumme Zeitzeugen.
Karen Krumrei
Literatur:
Peters, Hartmut: Der Pogrom vom 9./10. November 1938 in Jever und die Geschichte der jeverschen Synagogen 1698 bis 1988, in: Meyer, Enno (Hrsg.): Die Synagogen des Oldenburger Landes. Oldenburg 1988, S. 41-121
Peters, Hartmut: Verbannte Bürger. Die Juden aus Jever. Jever 1984
Trepp, Leo: Die Oldenburger Judenschaft. Oldenburg 1973
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