Banner des Gesangvereins Jever (Rückseite) mit den Symbolen des Schwans, der Lyra und des Lorbeerkranzes. Goldgestickte Inschrift auf rotem Seidengrund. Der mit anderem Laub durchwirkte Eichenkranz auf den blauen, seidenen Seitenstücken entstammt dem Banner der 1839 gegründeten “Liedertafel”.
1959 hatte sich der Jeversche Gesangverein mit erheblichem finanziellen Aurwand ein neues Banner fertigen lassen. Dabei waren Teile von alten, mit der Zeit schadhaft gewordenen Fahnen zweier ehemaliger Jeverscher Männergesangvereine verwendet worden. Stolz hatte man bei der folgenden Fahnenweihe insbesondere auf die Herkunft der älteren Fahne verwiesen, entstammte sie doch noch der frühen Gründungsphase von Männerchören.
Zwei Initiativen hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Bewegung in Gang gebracht, die schnell alle deutschen Staaten erfaßte: 1808 waren auf Anregung des Musikers und Komponisten Carl Friedrich Zelter 25 Männer der Berliner Singakademie zusammengekommen und hatten den Männerchor “Liedertafel” gegründet; 1824 entstand in Stuttgart in Anlehnung an die schweizerische Männergesangsbewegung der erste “Liederkranz”.
Getragen vor allem von den bürgerlichen Schichten, wurden seit den dreißiger Jahren vielerorts Vereinigungen gebildet, die diesen Gedanken des Männergesangs übernahmen. Aber nicht allein das Musizieren war der Antrieb solcher Zusammenschlüsse. Wie in den unzähligen anderen Vereinen, die sich auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens bildeten, wollte man auch im Gesangverein jenseits der Beschränkungen, die das häusliche Leben, Stand und Beruf, aber auch die traditionellen Bindungen auferlegten, als Gleichgesinnte in freier Geselligkeit sich bilden und gemeinsamen Interessen nachgehen.
Es waren die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit -, von denen die deutsche Wirklichkeit weit entfernt war, die aber hier im Vereinsleben in Ansätzen praktiziert werden konnten. Mit diesen demokratischen Bestrebungen war früh schon der Gedanke der einheitlichen bürgerlichen Nation verbunden. In den Gesangvereinen erfreuten sich z. B. im Gefolge der Freiheitskriege gegen die französische Besatzung die patriotischen Lieder eines Theodor Körner großer Beliebtheit. Die von zwölf Jeveranern im September 1839 gegründete “Liedertafel” scheint ganz dieser Bewegung verbunden gewesen zu sein. Im engen Kreis der “Sangesbrüder”, in den ein neues Mitglied nur mit der Zustimmung aller aufgenommen werden konnte, wurde neben dem Musizieren vor allem die Geselligkeit gepflegt. Eine Stunde der dreistündigen Treffen, die vierzehntägig stattfanden, sollte der Gesangsübung vorbehalten bleiben. Jährlich fanden am Gründungstag Stiftungsfeste mit den Frauen statt, öffentliche Konzerte aber hat die “Liedertafel” nicht gegeben.
1842 wurde dem Verein ein von den Frauen der Mitglieder gesticktes Banner übergeben. Es scheint, auch wenn wir nurmehr undeutliche Abbildungen von ihm besitzen, der Idee des Vereins symbolhaften Ausdruck verliehen zu haben. Selbst Zeichen der Einheit, verweist es mit seiner Inschrift “Haltet Frau Musika in Ehren” auf das gemeinsame Anliegen und nimmt mit dem Eichenlaubkranz den Gedanken der einheitlichen deutschen Nation auf.
Wenige Jahre nur hatte diese “Liedertafel” Bestand; ihre Tradition wie auch das Banner scheinen von der “Ostersehltschen Liedertafel” weitergeführt worden zu sein. Dieser Männergesangverein, benannt nach dem Vergnügungslokal, in dem die Übungen stattfanden, wirkte bis 1863 und übertrug das Banner dem Jeverschen Singverein. Dort sollte es solange verwahrt bleiben, bis ein neuer Männerchor mit einer ähnlichen Bedeutung wie die “Ostersehltsche Liedertafel” auftreten würde. Obwohl in der Folge verschiedene Männerchöre aktiv waren, erschien dem Singverein erst der 1885 gegründete “Männergesangverein” würdig, das Banner zu übernehmen. 22 Jeveraner Bürger, zumeist Kaufleute und Lehrer, hatten sich zusammengetan, den Chor ins Leben zu rufen. Indem er, wie in den Satzungen festgehalten ist, die Pflege von Musik und Geselligkeit als erklärte Absicht herausstellte, schien er die Tradition der frühen Vereinigungen fortzuführen. Mittlerweile hatten sich aber Form und Inhalte der gesamten bürgerlichen Männerchorbewegung geändert.
War vor allem das einfache Lied die ursprüngliche Basis der Männerchöre gewesen, so hatte man sich in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend dem anspruchsvollen Kunstchor zugewandt. Insbesondere die regionalen und überregionalen Sängerfeste, zumeist mit einem Wettsingen verbunden, förderten diese Entwicklung. Während der Gesang somit auf der einen Seite über die reine Unterhaltung hinausging und dem Zuhörer Aufmerksamkeit abverlangte, wurden zugleich neue Anforderungen an die Geselligkeit gestellt. Schon die wachsende Zahl der nichtsingenden Vereinsmitglieder wirkte sich vor allem auf Ausrichtung und Verlauf der internen Feiern aus. Auch beim Jeverschen Männergesangverein waren solche Feste durch abwechslungsreiche Programme gekennzeichnet. Humoristische Vorträge und varieteartige Einlagen wurden den Konzerten hinzugefügt.
Beide Seiten, das Musizieren und die Geselligkeit, hatten sich zunehmend verselbständigt und einen stärker nach außen gerichteten, repräsentativen Charakter angenommen. So wurden bei den internen Feierlichkeiten vielfach zahlreiche Tischreden gehalten zu Ehren des Kaisers und des Großherzogs, auf das “Vaterland” und den Verein. Und bereitwillig nahm man äußere Anlässe wie den Geburtstag Bismarcks, die Kaiserjubiläumsfeier oder verschiedene Kriegerfeste auf, um sich über die eigenen Veranstaltungen hinaus dem Publikum vorzustellen.
Wie auch immer genauere Würdigungen die vielfältigen Aktivitäten des Männergesangvereins bewerten mögen, mit den oben genannten scheint der Verein sich von der Entwicklung der meisten anderen bürgerlichen Männerchöre nicht abzusetzen. Nicht die Aufbruchstimmung der frühen Vereinigungen bestimmte mehr die Atmosphäre dieser Vereine, es war das bewahrende, das konservative Moment, das um die Jahrhundertwende in den Vordergrund trat und dort in eine reaktionäre Haltung umschlug, wo vor allem die “vaterländischen Lieder” den Nationalismus des Wilhelminischen Deutschlands verbreiten halfen.
Wie weit sich die Bewegung der Männerchöre zu dieser Zeit von ihren ursprünglichen Ideen schon entfernt hatte, das führt sinnfällig die Fahne des Bürger-Gesang-Vereins “Liederkranz”, deren Teile das Gros des neuen Banners bilden, vor Augen. 1877 gegründet, hatte dieser Gesangverein sich 1913 eine zweite Vereinsfahne fertigen lassen, da die erste einem Brand zum Opfer gefallen war.
Prunkvoll und symbolüberladen scheint im Vergleich zur Fahne der ehemaligen “Liedertafel” bei ihr alles auf Wirkung, auf – fast schon zwanghaft anmutende -Selbstdarstellung ausgerichtet: Im würdigen Lorbeerkranz erscheint vor der Lyra “Frau Musika” in der Gestalt des weißen Schwanes. Mit dem Jeverschen Stadtwappen und der Abbildung des Schloßturmes hatte man sich der regionalen, der “heimatlichen” Tradition versichert, und über den römischen Gruß, über das pathetische “Heil” an das “deutsche Lied”, die nationale Gesinnung zum Ausdruck gebracht.
Inwieweit die letztgenannte Tendenz, die bei beiden Vereinen vorhanden war, die scheinbar bruchlose Einbindung in die “kultur”-politischen Bestrebungen des nationalsozialistischen Regimes förderten, müßte der Darstellung einer detaillierten Aufarbeitung der Vereinsgeschichte vorbehalten bleiben. Unter den Vereinsfahnen, von denen die ältere durch einen Hakenkreuzwimpel ergänzt wurde, erklangen jetzt jedoch Lieder, die der nationalsozialistischen Ideologie entgegenkamen und sie verbreiten halfen. 1938 wurden beide Vereine zu den “Vereinigten Männerchören Jever” zusammengeschlossen; eine neue Fahne wurde nicht angeschafft.
Auch der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter dem Namen “Gesangverein Jever” wieder aufgebaute Chor führte seine Veranstaltungen unter beiden Fahnen durch. 1958 kam dann angesichts der mittlerweile schadhaft gewordenen Banner die Überlegung auf, sich eine neue Vereinsfahne zuzulegen. Nach einigen wohl heftig geführten Diskussionen zwischen den Mitgliedern wurde beschlossen, unter Verwendung von Symbolen der beiden alten Fahnen eine neue anfertigen zu lassen. Traditionsverbundenheit sollte damit zum Ausdruck gebracht werden. Was sich dabei durchsetzte, war ein Verständnis, dem es nicht um die eigene Geschichte in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit ging. In den alten Bannern war sie sinnhaft noch vorhanden. Aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen gerissen und von anrüchigen Inhalten wie dem “Heil deutschem Lied” gereinigt, traten die Symbole nun in ein neu konstruiertes Beziehungsgefüge. Auch die sich darin äußernde Haltung ist Bestandteil der Geschichte dieser Fahne, die dem Museum 1987 übergeben worden ist und hier nun als Zeichen lokaler Kulturgeschichte präsentiert wird.
Peter Schmerenbeck
Literatur:
Chroniken und Protokollbände des Jeverschen Männergesangvereins, des Bürger-Gesang-Vereins “Liederkranz” und des Gesangvereins Jever.
Bader, Franz: Die Pflege der Musik in Jever. Jever 1895.
Eiben, Otto: Der volksthümliche deutsche Männergesangverein. Tübingen 1887.
Festschrift und Programm zur 100-Jahr-Feier des Gesangvereins Jever. Jever 1977.
Fink, A.: 50 Jahre Jeverscher Männergesangverein. Jever 1935.
Nipperdey, Thomas: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Göttingen 1976.
Rüb, Otto: Die chorischen Organisationen (Gesangvereine) der bürgerlichen Mittel- und Unterschicht im Raum Frankfurt am Main von 1800 bis zur Gegenwart. Frankfurt/M. 1964.
Staudinger, Hans: Individuum und Gemeinschaft. Jena 1913.
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