Die Schneekugel: Souvenir oder Kunstobjekt? [35]

odm0300Abb. l: ” Schneekugeln”. Die drei Schneekugeln gehören zu einer maritimen Motivgruppe. Die Kugel unten rechts stammt aus den fünfziger Jahren und weist einige Beschädigungen auf. Maße: Höhe 5 cm. Breite 5 cm, Länge 7 cm. Foto: Fotostudio Sprengel.

Neulich ging ich über den Oldenburger Flohmarkt und entdeckte eine Schneekugel, halb gefüllt mit Wasser und einem Segelschiff darin. Fasziniert betrachtete ich das Objekt, nahm es in die Hand und schüttelte es. Kindheits- und Urlaubserinnerungen schössen mir durch den Kopf. Ich kaufte diese Schneekugel für das Schloßmuseum Jever, da dort im nächsten Jahr eine Ausstellung zum Seebädertourismus eröffnet wird. Eine Schneekugel dürfte die Souvenir-Ecke der Ausstellung sicherlich bereichern.

Doch zunächst nahm ich die Schneekugel vom Flohmarkt mit nach Hause. Als mich am Abend Freunde besuchten, war sie das bestimmende Gespräch des Abends. “Oh, solch eine Kugel hatte ich als Kind auch schon mal.” “Völlig kitschig, aber schön.” Ähnliches hörte ich auch später fortwährend, wenn ich diese Kugel erwähnte. Das alles machte mich neugierig. Ich versuchte zu ergründen, warum diese kleine mit Wasser gefüllte Kugel derartige Gefühle hervorrufen konnte. Nach Durchsicht der spärlichen Literatur über Schneekugeln, auch Schüttelbilder oder Schneis genannt, erfuhr ich, daß es sie schon seit über hundert Jahren gibt: “In einer der ersten historisch bezeugten Schneekugeln, die 1878 auf der Pariser Weltausstellung zu sehen war, stand ein Mann mit aufgespanntem Regenschirm .. .” (Boehncke/ Bergmann 1990: 191).

Der Vorgänger der Schneekugel, die mit Wasser gefüllte Glaskugel, wird bereits 1572 erwähnt. Der Alchimist Leonard Thurneysser ließ 1572 eine Glaskugel, in der Vögel schwammen, in der Grimnitzer Glashütte blasen (Boehncke/Bergmann 1990: 191). In der Welt der Literatur fand sie auch ihren Stellenwert. 1916 schrieb Felix Timmermans in seinem Roman “Pallieter” folgenden Absatz: “Sie holte ihr Eimerchen, knöpfte das nasse Taschentuch ab und holte, immer weiterredend, eine gläserne Kugel heraus, in der ein kleines Marienfigürchen stand. “Guck nur, wie schön!”, rief sie, “es schneit.” Und sie drehte die Kugel um, schüttelte sie hin und her, und da fielen und wimmelten in der Kugel lauter kleine, weiße Stipschen um das Figürchen herum.” (Timmermans 1931: 177). Die Romanfigur kaufte die Schneekugel nach dem Besuch einer Prozession.

Auch berühmte Männer wie Theodor W. Adorno fanden die Schneekugel einer Erwähnung wert. So schrieb er 1950 über Walter Benjamin, den wohl berühmtesten Schneekugel-Sammler: “Ihn sprachen die versteinerten, erfrorenen oder obsoleten Bestandstücke der Kultur, alles an ihr, was der anheimelnden Lebendigkeit sich entäußerte, so an, wie den Sammler das Petrefakt oder die Pflanze im Herbarium. Kleine Glaskugeln, die eine Landschaft enthalten, auf die es schneit, wenn man sie schüttelt, zählten zu seinen Lieblingsutensilien.” (Adorno 1955: 289).

Das Zusammenspiel von Halbkugel, Wasser, Schnee und Motiv mutet irreal, phantastisch, ja märchenhaft an. Der Mann mit aufgespanntem Regenschirm in der Schneekugel von 1878 ist typisch dafür. Ein Mann, im Wasser stehend, schützt sich vor dem Schnee. Unsere drei Kugeln zeigen Schiffe unter Wasser, zudem im Schnee. Es ist faszinierend: Wir halten eine Welt in der Hand, die von der Widersprüchlichkeit lebt. Durch das Schütteln beeinflussen wir direkt diese Welt. Das Betrachten läßt uns in eine Traumwelt sinken oder bringt uns in eine entspannte Phase. Selbst ein Detektiv in einer amerikanischen Fernsehserie erholt sich beim Schütteln der Schneekugel (SAT l, Booker, 5. Mai 1991).

Die in sich abgeschlossene Welt, die mit ihrem Schneegestöber und ihrer Motivwahl einzigartig ist, läßt für über 1000 Sammler und Sammlerinnen in Deutschland die Schneekugel zu einem begehrten Sammlerobjekt werden. In der Nordwest-Zeitung wird in der Ausgabe vom 25. November 1989 eine Sammlerin vorgestellt, die mehr als 2000 Exemplare besitzt. Ihre Sammelleidenschaft führte gar soweit, daß sie darüber ihre Doktorarbeit schrieb. Walter Benjamin und die nicht namentlich genannte Doktorandin stehen stellvertretend für Erwachsene der Mittelschicht, die zu den eifrigsten Sammlern und Sammlerinnen gehören (Seger: 1985: 16).

Nun einige technische Details: In den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts wird die Schneekugel nicht mehr aus Glas, sondern aus Polystyrol hergestellt. Durch moderne Fertigungstechniken – immer noch in Handarbeit hergestellt – wird sie ein Massenprodukt. Wie bei unseren Abbildungen handelt es sich um halbrunde, mit destilliertem Wasser gefüllte Kugeln, die mit Glimmer, eingeweichtem Polystyrolflocken-Schnee und Zusätzen zur Verhinderung von Algenbildung gefüllt werden. Im Winter erfolgt paradoxerweise kein Versand von Schneekugeln, da Frosteinwirkung die Kugeln bersten lassen könnte. Mit frischem Wasser, das mit Hilfe einer Spritze nachgefüllt wird, wird Verdunstungen entgegengewirkt.

Bei unserem rechten Objekt (s. Abb. l) war dies allerdings fast nicht mehr möglich, da der Nachfüllnippel abgebrochen ist. Aber auch diese neuaufgefüllte Kugel hat durchaus ihren Reiz, sehen wir hier ganz klar und deutlich, was mit ihr im Laufe der ca. letzten 40 Jahre passierte. Das Wasser verdunstete, die blaue Hintergrundbemalung löste sich auf und gibt dem Wasser einen bläulichen Schimmer. Die obere Kugel ist wesentlich jünger, wahrscheinlich erst ein paar Jahre alt, die Kugel unten links ist nagelneu und wurde von mir auf Wangerooge gekauft. Unsere drei Kugeln zeigen damit verschiedene Stadien eines Schneekugel-Lebens. “Die Schneis brauchen von Zeit zu Zeit eine gewisse Pflege, vor allem müssen sie einmal im Vierteljahr geschüttelt werden . . .” (NWZ 1989: Nr. 275).

Die Motive in der Schneekugel lassen sich schwerlich in eine Systematik bringen. Wir finden, wie bei unseren Objekten, maritime Motive, aber auch Landschafts-, Märchen-, Comic-, Tier-, sakrale, Flora-, skurile Motive und weitere mehr (vgl. Werbeprospekte der Firma Walter & Prediger und Koziol 1991). In der Welt der Urlaubssouvenirs begegnen uns ferner vielfach Städte- und Landschaftsmotive. So auch bei unseren Kugeln, die mit Ortsbezeichnungen sowie der Küstenregionsbezeichnung “Nordsee” versehen sind. Wir finden sie in den Stubenschränken von Urlaubern und Urlauberinnen wieder. Gerne werden sie zur Hand genommen und lassen erlebnisreiche Urlaubserinnerungen wieder wach werden.

Die Schneekugel als Werbeträger ist eine neuere Erscheinung. So finden wir sogar Kugeln in der Parteiwerbung. Das niedersächsische Pferd verschwindet unter schwarzem Schnee, in Anspielung auf die 1990 abgewählte christlich-liberale Landesregierung. Selbst der DGB schreckt vor der Schneekugel als Werbeträger nicht zurück. Die Problematik der 35-Stunden-Woche wird von der IG Metall in eine winterliche Illusion gebracht (Seger 1985:56). Auch Bundeskanzler Helmut Kohl findet sich in der Schneekugel wieder. Ganz neue Kugeln sind mit Nützlichem verbunden, sie sind mit Salz- und Pfefferstreuer ausgestattet.

Mögen sie uns auch banal erscheinen, interessant sind sie allemal. Nicht nur das Schloßmuseum Jever nimmt sich ihrer an, auch das Mindener Museum und das Puppen- und Bärenmuseum in St. Goar am Rhein würdigten diesen kitschigen wie auch reizvollen Gegenstand in kleineren Sonderausstellungen.
Etta Bengen

odm03002Abb: 2: Einblick in eine Schneekugel-Produktionsstätte (Seger 1985).

Literatur:
Adorno, Theodor W.: Charakteristik Walter Benjamin, in: ders.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Baden-Baden 1955. (Erstveröffentlichung in: “Die neue Rundschau”, 1950)
Boehncke, Heiner: Die Schneekugel, in: Heiner Boehncke und Klaus Bergmann: Galerie der kleinen Dinge. Zürich 1990.
Etwas Faszinierendes: Wildes Schneegestöber in bunten Glaskugeln. Sammlerin schrieb Doktorarbeit darüber. Nordwest-Zeitung Nr. 275 vom 25. November 1989, ohne Angabe der Verfasserin.
SA I, Booker, 5. Mai 1991.
Seger, Juliane: Schneekugel. Bunte Welt im Glas. Hannover 1985.
Timmermans, Felix: Pallieter. Leipzig 1931. (Originalausgabe 1916).
Werbeprospekte der Firma Walter & Prediger, Kaufbeuren-Neuga-blonz und Koziol, Erbach/Odenwald, 1991.

Internet:
Schneekugelhaus – Alles rund um die Schneekugel ↑ (14.07.2009)

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