Sobald von Ost-Friesland die Rede ist, denkt man an Tee. So einfach wie es scheint, ist es aber nicht. Die Geschichte des Tees auf der ostfriesischen Halbinsel reicht nicht weiter als knapp 300 Jahre zurück. Weitaus älter ist dagegen die Geschichte eines anderen weitverbreiteten Getränkes. Die Rede ist vom Bier. Das Bier gehört schon seit Jahrhunderten zu den menschlichen Grundnahrungsmitteln, allerdings nicht immer in der Form, wie wir es heute kennen. Es wurde vornehmlich als selbstgebrautes Dünnbier oder als Biersuppe konsumiert. Mit dem beginnenden 18. Jahrhundert wurde das Dünnbier durch die aufkommenden städtischen Brauereien allmählich verdrängt. In ihrem Gefolge entstanden viele Kneipen und Bierlokale, und es entwickelte sich eine vollkommen neue Trinkkultur, in der das Bier einen besonderen Stellenwert erhielt. Im 19. Jahrhundert begann das Bier allmählich als reines Genußmittel eine Rolle zu spielen, die die Gestaltung von Freizeit und Geselligkeit entscheidend mitbestimmte. Das Streben der bürgerlichen Gesellschaft nach neuem Selbstbewußtsein zeigte sich auch in der wachsenden Vereinsseligkeit. Es bildeten sich feste Stammtischrunden, in denen der Bierkonsum ritualisiert wurde. Zusammenkünfte dieser Art boten immer wieder Anlaß, in Bierseligkeit zu schwelgen, und aus einer solchen Stammtischrunde ist wohl auch die folgende Blüte aus der Geschichte Jevers entstanden, an die der Bierkrug aus dem Bestand des Schloßmuseums Jever erinnert.
Es handelt sich hierbei um einen Bierkrug aus Steinzeug, dessen Entstehung in die Zeit zwischen 1883 und 1896 datiert werden kann. Er hat eine Höhe von 20 cm und einen Durchmesser von 8,5 cm. Der Deckel, auf dem eine Bismarckbüste zu sehen ist, wurde aus Zinn gefertigt. Der für Bierkrüge dieser Art typische Daumendrücker zeigt einen Adler mit Wappen und Krone als Symbol des Deutschen Reiches. Die Außenseite des Kruges ist reichhaltig verziert. In der Mitte sieht man ein großes Kiebitzei mit drei Füßen und einem Kiebitzkopf. Rechts und links davon steht auf zwei Spruchbändern:
Aber sonst nichts auf der Welt.
Gräbt man nun in den Archiven und Inventarbüchern des Museums, so stößt man auf einen Verein bzw. eine Gesellschaft, die sich die “Getreuen von Jever” nennt und die diesen Bierkrug dem Museum gestiftet hat.
Die im ausgehenden 19. Jahrhundert aus einer Stammtischrunde entstandene Gruppe hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck zu verehren. Versetzen wir uns zurück in das Jahr 1871: Das historisch arg gebeutelte Deutschland war gerade vereint und wieder mit einem Kaiser beglückt worden, sehr zum Wohlgefallen gehobener Gesellschaftskreise. Aus diesen Kreisen rekrutierte sich auch jene Versammlung gutbürgerlich-konservativer Bürger – unter ihnen Gymnasial- und Oberlehrer, Amtsmänner und Ratsherren, Bankiers und Gutsbesitzer – aus Jever, um dem frischgebackenen Kanzler des Deutschen Reiches die Referenz zu erweisen. Nach einer längeren Zeit der stillen Verehrung war man der Meinung, die Gesinnung durch Taten für die Welt sichtbar machen zu müssen. Man hatte von der Vorliebe des großen Fürsten für Kiebitzeier gehört, und so tagte man lange und ausgiebig, um festzulegen, wie man dem Reichskanzler auf ehrerbietigste Weise huldigen könne. Zu vorgerückter Stunde, als Alkoholspiegel und Geräuschpegel über dem Stammtisch schon erheblich angestiegen waren und man dem allgemeinen Stimmengewirr entnehmen konnte, daß gerade die Zahl der zu verschickenden Kiebitzeier lebhaft diskutiert wurde, erhob sich plötzlich die Stimme des Ehrwürdigsten der Getreuen, und “Onkel Wilhelm” Mettcker rief lauthals in die Runde:
Somit war die Geschichte von den 101 Kiebitzeiern geboren.
Heute kann man gewiß lächeln über diesen “Hurra-Patriotismus” von Stammtischpolitikern aus der Kaiserzeit, aber er gehört genauso zur lokalen Geschichte Jevers wie vieles andere auch. Diese regional-historische Episode ist zugleich typisch für die euphorische Zeit nach der Reichsgründung. Im ganzen Deutschen Reich bildeten sich Stammtischrunden solcher Bierpatrioten, um teils gemütlich entspannend, teils hitzig politisierend den Feierabend zu genießen.
Der einzige Unterschied zu den reichsweit üblichen Bierrunden war, daß Bismarck sichtbar auf die Verehrung der Jeveraner reagierte. Da sie ihm Jahr für Jahr 101 Kiebitzeier zu seinem Geburtstag am 1. April schenkten, mußte der Reichskanzler sich wohl bewogen gefühlt haben, anläßlich des 10jährigen Bestehens der “Getreuen” zum Dank einen silbernen, eiförmigen Pokal zu senden, der auf drei Beinen ruht und dessen Deckel einen Kiebitzkopf trägt. In dem von innen vergoldeten Deckel sieht man das Wappen Bismarcks und die Fürstenkrone. Im Laufe der Zeit ist sicherlich viel des edlen Tropfens aus ihm in viele Kehlen hineingeflossen, da jedes Jahr am 1. April zum Gedenken an den Reichskanzler der Pokal im Kreise der Getreuen die Runde machte. Einen wesentlich höheren Umsatz in der Stammkneipe hat aber sicherlich der mehrfach hergestellte Bierkrug bewirkt, auf dem eben jener Pokal abgebildet ist und dessen Gebrauchsspuren auf seine häufigere Nutzung hinweisen. Als Datierungshilfe findet man in dem Werk “Die Getreuen in Jever” des Heimatforschers F.W. Riemann von 1896 eben jene Krüge als Stammtischkrüge der Getreuen abgebildet. Später wurden diese Krüge auch zu Werbezwecken genutzt, wie die Anzeige von 1923 aus dem “Adreßbuch für Stadt und Amt Jever” zeigt.
Zum Schluß sei noch vermerkt, daß noch heute alljährlich zum Geburtstag des Reichskanzlers Otto von Bismarck die Getreuen von Jever, also jene, die sich ihm noch heute verbunden fühlen, zusammenkommen, um im Sinne bürgerlichen Traditionsverständnisses gemeinsam den Kiebitzbecher kreisen zu lassen.
Carsten Vorwig
Anmerkungen:
1) K. Fissen: Jever, Volkstümliches aus einer kleinen Stadt und ihrer Landschaft. Jever 1960. S. 210
Literatur:
Braudel, F.: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 1: Der Alltag, Kap. 3: Getränke und Rauschmittel, S. 239-281, München 1985
Fissen, K.: Jever, Volkstümliches aus einer kleinen Stadt und ihrer Landschaft, Jever 1960
Ders.: Wilhelm Mettcker zum Gedenken 1825-1900, in: Historienkalender 1956, S. 34-36
Riemann, F. W.: Die Getreuen in Jever, Oldenburg 1896
Ders.: Onkel Wilhelm, in: Der Friese, Illustrierte Halbmonatszeitschrift für Geschichte, Landes- und Volkskunde, Sprache, Kunst und Literatur des Friesenvolkes, Ausgabe 5/1905, S. 70-75
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