“Es lebe die Feindschaft! Es sterbe die Freundschaft! Niemals in unseren Herzen.” Diesen Spruch schrieb im Juli 1800 Elisabeth von Garrel ihrer Freundin C.M. Doden in deren Stammbuch. Es gehört zu einem kleinen Bestand an Stammbüchern, die im Besitz des Schloßmuseums sind. Diese “Denkmäler der Freundschaft”, wie sie auch genannt wurden, sind Vorläufer unserer heutigen Posiealben. In den adeligen Kreisen führte man schon im 16.Jahrhundert solche Bücher. Im 17. und 18. Jahrhundert fanden – im Zuge der sich verbreitenden Lese- und Schreibfähigkeit – immer mehr Bürgerliche, auch wohlhabende Bauern, an dieser Albumsitte Gefallen. Den Höhepunkt ihrer Beliebtheit erreichten sie um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Aus eben dieser Zeit stammt das ausgestellte Stammbuch, das Eintragungen von 1799-1818 enthält. Es ist als Querformat gebunden, steckt in einem schützenden Schuber und bietet auf rund 400 Seiten Platz für Gedenksprüche, Prosa, Bilder und Zeichnungen etc. Die Vorderseite des cremefarbenen Einbandes ist durch einen prächtigen Prägedruck im Empire-Stil geschmückt; auf einer grabsteinähnlichen Platte stehen die Worte: “Denkmal für Freundinnen und Freunde.”
Ein solches Denkmal setzte sich u.a. der Jeveraner Maler E.C. Dunker jun. und trug in C.M. Dodens Album ein: “Unsere Phantasie verfolgt stets unsere Träume und eiteln Wünsche/ die wir nie erfüllt sehen. Immer ist der Mensch unzufrieden wir sehen/ weit hinaus auf fremde Gefilde von Glück, aber Labyrinthe/ versperren den Zugang, und dan seufzen wir hin und vergessen-/ das Glück das Gute zu bemerken, das jedem auf der angewiesenen Bahn des Lebens beschert ist. (S. Gesser). Das Andenken an Freunde erregt bey uns manche Freude, wenn diese paar Zeilen IHNEN ein ähnliches Gefühl gewähren, so erreichte hierbey seine Absicht IHR ergebenster Freund E.C. Dunker iunior Jever am 2 ten Merz 1800.”
Diese Gedanken spiegeln das Grundgefühl vieler Stammbucheinträge des 18.und frühen 19. Jahrhunderts wider: vergebliches Streben nach Glück, Lebensenttäuschung, Zufriedenheit nur bei Selbstbescheidung. Diese Schicksalsergebenheit erstaunt ein wenig. Liegt doch die Französische Revolution, die – von unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen getragen – aktiv in das Leben der Zeitgenossen eingriff, erst rund 10 Jahre zurück. Anklänge an sie sind eher in den Stammbüchern der Männer zu finden, wo man Formulierungen wie “Tugend adelt allein” oder “Männerstolz vor Männerthron” findet.
Solche Sprüche propagieren eine klare Absage an den erblichen Adel und heben humanistische Ideale hervor. Das Ausklammern der zeitgenössischen Realität ist ein Charakteristikum der Stammbücher. Schliesslich sollten sie kein “politisches Tagebuch” sein, sondern der Erinnerung an die noch unbelastete Jugend dienen.
Bevorzugt wurden solche Weisheiten in Reimformen gebracht, in denen sich “Nelken” besonderer Beliebtheit erfreuten. Reimen sie sich doch auf “Verwelken” – und das ließ sich trefflich mit dem Gegensatz der immerwährenden Blume “Freundschaft” (Vergissmeinicht) zusammenfügen. Überhaupt waren die Sprüche seltenst Produkte überschäumender Phantasie. Eigene Gedanken wurden mit bekannten Sprüchen kombiniert, literarische Zitate dem eigenen Geschmack entsprechend abgewandelt, dem Anlaß der Widmung angepaßt oder direkt aus für diese Zwecke zusammengestellten Zitatenschätzen übernommen.
Das Bild des Malers Dunker zeigt einen jungen Mann, der versunken in einem Buch lesend von dem ihm umgebenden Gewitter kein Notiz nimmt. Vielleicht bietet die Szene einen Hinweis auf eine der Funktionen von (Stamm)-Büchern, die Trost und Ablenkung von der tosenden Natur geben können, welche hier wohl sinnbildhaft für das Leben gesehen werden kann.
Aber betracht wir noch einmal das “Objekt des Monats” im ganzen: Im Vergleich zu anderen Alben enthält es mit ca. 45 Eintragungen relativ wenig Sprüche. Mehr als die Hälfte stammt von Mädchen bzw. jungen Frauen. Es sind Freundinnen und Verwandte aus Jever und Umgebung, die sich der Besitzerin durch sorgfältig niedergeschriebene Reime auch in Zukunft der freundschaftlichen Erinnerung versichern wollten: “Wirst Du einst an Deine Freunde denken / O! so denke auch an mich zurück / Wirst Du ihm Kinder schenken / O! so schenk mir einen Augenblick!” Selten wird so direkt auf das künftige Leben als Ehefrau und Mutter angespielt. Meist begnügt sich der Gedichtinhalt mit allgemein gehaltenen Wünschen für ein glückliches, gesundes, “tugendvolles” Leben, das im Vertrauen auf Gott der Arbeit und der Familie gewidmet sein sollte: “Noch lächelt freundlich Dir das Leben/ Noch kennst Du nur das reinste Glück/ Doch wird’s auch trübe Tage geben/ Denn wandelbar ist das Geschick/ Darum lern früh an den Dich halten/ Der unser aller Natur ist./ Vertrau auf sein göttlich Walten/ Selbst wenn Du nicht ganz glücklich bist.” Dieses typische Beispiel findet sich 1881 im Stammbuch einer Catharina Hillers.
Seltener wurde das Elternhaus, die Schule oder Politisch-Historisches thematisiert. Letzteres ist allenfalls in den Alben von Studenten zu finden. Sie pflegten die Albumsitte besonders ausgeprägt. Durch die obligatorische Zugehörigkeit zu einer Verbindung war der Bekanntenkreis des einzelnen recht groß, und rund 100 Eintragungen sind keine Seltenheit. Bei dieser Menge ist es nicht erstaunlich, daß sich die Sprüche oft wiederholen, die Einträge eher kurze Devisen und wenig sorgfältig geschrieben sind. Möglich, daß zu später Stunde am Stammtisch der Bruderschaften Bücher herumgereicht wurden, in die dann durchaus leicht zotige Sprüche Einzug fanden. Vorteilhafter als die gebundenen Bücher erwiesen sich gerade in Studentenkreisen lose Blätter, die in hübsch verzierten Zettelkästen gesammelt wurden. Bei Studienortwechseln,die ein mitunter plötzliches Abschiednehmen bedeuteten, konnten viele Einträge gleichzeitig eingeholt werden. Milieugemäß findet man mehr lateinische Sentenzen als bei den Stammbüchern der Frauen; fremdsprachliche Einträge begrenzen sich bei beiden Geschlechtern ansonsten auf französische und englische Sprüche.
Die Ausschmückung der Albumseiten wurde stärker von den Frauen betrieben. Besonders die sog. “Höheren Töchter” des 19. Jahrhunderts pflegten die feinen Künste und schmückten ihre Sprüche z.B. mit floralen Motiven (bevorzugt mit dem vielsagenden Vergißmeinnicht), Silhouetten (mit Tusche gezeichnet oder Scherenschnitte) oder Landschaftsskizzen mit Symbolen, die Freundschaft bis über das Grab hinaus signalisieren sollten.
Bemerkswert ist in C.M. Dodens Album eine lose eingelegte Graphik mit dem Motiv der Burg Hannstein im Werratal. Sehenswürdigkeiten dieser Art waren selbst den wenig Gereisten durch die beliebte Reiseliteratur bekannt. Produziert und vertrieben wurde das Blatt von dem Verlag Wiederhold in Göttingen. Wiederhold (1743-1826) verkaufte diese Stammbuchblätter in seiner Göttinger Papier- und Schreibwarenhandlung. Für die Gestaltung der Stammbuchkupfer stellte er ortsansässige Künstler an. Der individuellen Verzierung waren keine Grenzen gesetzt: man findet geflochtene Zöpfchen, Locken, gestickte Blumen oder ab dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts industriell gefertigte Glanzbildchen. Man kann also feststellen, “daß alle bemüht sind, sich und ihr Streben im besten Licht zu zeigen und auch die Partner den höchsten Dingen zuzuführen, kurz, daß die Menschen sich von der besten Seite zeigen, die sie für die beste halten, und diese Seite auch bei anderen ansprechen.” 1)
Im Laufe des 19. Jahrhunderts verliert die Albumsitte an Popularität, und es läßt sich eine steigende Tendenz zur Unpersönlichkeit beobachten, vor allem bei der noch im 18. Jahrhundert ebenbürtig neben dem Haupteintrag stehenden Widmung. Sie wird kürzer, damit wiederholbarer, formelhafter und folglich austauschbar. Ähnliches gilt auch für die Ausschmückung, wobei besonders an die Glanzbildchen zu denken ist, die schließlich Massenware waren und eine Zeitlang als Tausch- und Sammelobjekt wichtiger als die Stammbücher selbst wurden.
Im 20. Jahrhundert fällt vor allem auf, daß die an den Büchern Beteiligten jünger als in den vorangegangenen Jahrhunderten sind. Heute sind es 9-12jährige, die solche Alben führen. Auch ihre Sprüche sind gefühlvoll, die Sprache soll erwachsen und nicht alltäglich klingen, doch entgegen dem unkritischen Freundschaftskult des 19. Jahrhunderts beurteilen die Jugendlichen den Begriff der Freunschaft differenzierter: “Annegret, lerne Menschen kennen;/ Denn sie sind veränderlich./ Die Dich heute Freundin nennen,/ Morgen reden über Dich.” 2)
Aber trotz aller Ernsthaftigkeit persiflierte schon damals ein pfiffiger Anonymus aus Jever die gebräuchlichen gefühlvollen Eintragungen und dichtete für C.M. Doden: “Rosen und Nelken blühn und verwelken/ aber unsere Freundschaft nicht/ Lebe wohl Kartoffelgesicht – Zum Andenken an Kartoffel, Jever November 24 1799.”
Annette Krug
1) Angermann, G.: Stammbücher und Poesiealben als Spiegel ihrer Zeit. Münster 1971, s.445.
2) ebenda, S. 340. Der Spruch wurde 1958 in ein Album aus Halle i.W. eingetragen.
Literatur:
Angermann, Gertrud: Stammbücher und Posiealben als Spiegel ihrer Zeit nach Quellen des 18.-20. Jahrhunderts aus Minden-Ravensberg. Münster 1971
Göhmann, Christine H.: Göttinger Stammbuchkupfer. In: Volkskunde in Niedersachsen 10 (1993), H.1, S. 34-38
Feist, Peter H. (Hg.): Geschichte der Kunst 1760-1848. Gütersloh 1986
© Schloßmuseum Jever