Eine Taschenuhr mit “Cylinder”-Hemmung [04]

uhrSilberne Taschenuhr im Übergehäuse aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Kettenrest und Uhrenschlüssel. Das Gehäuse zeigt auf der hinteren Deckelklappe außen ein Blumenornament und innen verschiedene Reparaturzeichen sowie eingraviert die Inschrift “H. Hebnich” (Uhrmacher? Besitzer?). Auf dem rückwärtigen Uhrengehäuse befinden sich sowohl der Aufzugsdorn als auch die Bezeichnungen “Cylindre” und “10 Muleis”(?).

Der amerikanische Soziologe und Philosoph Lewis Mumford zählt die mechanische Uhr zu den wichtigsten Erfindungen des Mittelalters. Sie habe das Raum-Zeit-Gefüge der zivilisierten Welt grundlegend verändert und sowohl die Umwelt als auch den inneren Charakter des Menschen modifiziert. “Die Maschine, die die Zeit mechanisierte, regelte nicht nur die Tätigkeiten des Tages: Sie machte die menschlichen Reaktionen unabhängig von Auf- und Untergang der Sonne und knüpfte sie an den Gang der Uhrzeiger; so führte sie genaues Maß und exakte Zeitkontrolle in jede Lebenstätigkeit ein, indem sie eine unabhängige Norm aufstellte, nach welcher der ganze Tag geplant und eingeteilt werden konnte (…). Das Messen von Raum und Zeit wurde zum integralen Bestandteil des Kontrollsystems, das der westliche Mensch über den ganzen Erdball ausdehnte” (Mumford 1974: 325).

So gesehen verdichtet sich auch die vorliegende Taschenuhr zu einem Symbol der technischen Zivilisation, die Sammler und Museen fasziniert. Während diese jedoch dem Einfallsreichtum der Mechanik und der künstlerischen Gestaltung huldigen, ist eine Uhr für die meisten Menschen selbstverständlich und alltäglich, allenfalls noch Ausdruck des persönlichen Habitus. Und doch ist die Faszination der Uhr verständlich: wer sich mit ihr beschäftigt, eröffnet sich unendliche geistige Räume.

Mit den verschiedenen historischen Instrumenten zur Zeiterfassung und -messung wie der Sonnen-, Sand- oder Wasseruhr sowie verschiedener kalendarischer Zeiteinteilungen reicht die Entwicklungsgeschichte der Uhr weit mehr als 5000 Jahre zurück. Bestimmte Bestandteile wie Zahnräder, Achsen und Gewichte waren bereits in der Antike bekannt. Die sogenannte Hemmung, also eine Vorrichtung, die das unkontrollierte Ablaufen der Antriebsenergie bremst und in gleichförmige Bewegung umwandelt und somit das gleichmäßige Einteilen des Zeitflusses und das Zählen der einzelnen Zeitabschnitte ermöglichte, markiert den Übergang zur mechanischen Räderuhr, wie sie uns geläufig ist. Ihre erste Erwähnung findet sich in Dante Alighieris (1265-1321) “Göttlicher Komödie”, deren Entstehungszeit zwischen 1301 und 1321 vermutet wird.

Die schnelle Verbreitung der Räderuhr im 14. und 15. Jahrhundert über die gesamte zivilisierte Welt führte dazu, daß bald nicht mehr allein das Läuten der Kirchenglocken, sondern zunehmend der Schlag der Rathausuhr mit ihren Stundenangaben ein entscheidendes Ordnungsmittel zumindest der städtischen Gemeinwesen wurde. Marktzeiten, Ratssitzungen, Torschluß, aber auch Hochzeiten, Beerdigungen, Taufen, Arbeitszeiten und Entlohnungen richteten sich nun nach der neuen Zeit. Nahezu überall, in Kirchen, Rathäusern, Schlössern, Klöstern, in den Stuben und Werkstätten der Bürger und Handwerker waren die neuen Zeitmesser anzutreffen – als Zeichen eines gegenüber dem mystischen Mittelalter ins Diesseitige gewandten Lebens- und Zeitgefühls. Mit ihnen begann sich der bürgerliche Tagesablauf zu emanzipieren. Gerade tragbare Uhren waren oftmals mehr Schmuck als Zeitanzeiger, größere Uhren vielfach ein wichtiges Möbelstück.

zylindergangZylindergang. Aus: Libuse Uresová, Alte Uhren. Hanau/M. o. J.

Die Taschenuhr ist kein bewußt entwickelter Uhrentyp, sie hat sich vielmehr aus dem Drang nach Verkleinerung der Uhr ergeben. Natürlich spielten auch Einflüsse der zeitgenössischen Kultur, des Stils und der Mode eine gewichtige Rolle. Die gewichtsgetriebenen Werke aus der Frühzeit der Räderuhr waren aufgrund ihrer Größe und ihres Gewichts nicht zum Mitnehmen am Körper, in der Reisekutsche oder am Pferdesattel geeignet. Ende des 15. Jahrhunderts wurde der Federzugantrieb entwickelt, der schließlich die Konstruktion kleiner Antriebswerke ermöglichte, die in jeder Lage gleich gute Gangresultate liefern konnten. Im Zuge dieser Verbesserungen nahm das Uhrmacherhandwerk einen rasanten Aufschwung und galt bald als Inbegriff der Präzision schlechthin. In diesen Jahren entstanden solche Formen wie die Turmuhr, die Tischuhr, phantasievolle Anhängeruhren und die Figurenuhren. Um 1510 tauchten in Deutschland erstmals die Vorläufer der Taschenuhren, kleine Dosen- und Halsuhren, auf. Zwei Erscheinungen führten von der offen getragenen Halsuhr und der im Geldsack verborgenen Sackuhr zur nunmehr in der Kleidung getragenen Taschenuhr: die Erfindung der Unruhspiralfeder und das Aufkommen und die Verbreitung eines neuen Kleidungsstückes – der Weste. Nachweislich wurden ab 1675 Uhren in den Taschen der Kleidung getragen. Die Taschenuhr ist dabei vor allem eine “Herrenuhr”. Die deutlich sichtbare Kette mit dem Schlüssel übernahm auch die Funktion, den Träger als Besitzer einer Uhr zu kennzeichnen, da dies mit nicht geringem sozialen Prestige verbunden war. Die Damen trugen sie weiter an einem Samtband oder einer Kette um den Hals, manche an der Taille oder an einem Gürtel baumelnd.

Die Zeit bzw. ihre Einteilung und Messung griff weit in den Alltag ein, was diesen nicht immer einfacher machte. Erst in der Nacht zum 1. April 1893 wurden alle lokalen Zeiten abgeschafft und die Mitteleuropäische Zeit eingeführt. Bis dahin existierten nationale Zeiten für die einzelnen Länder und je nach Ausdehnung noch regionale Zeitzonen. Dazu kamen Unterschiede in der Ortszeit, der Bahnhofszeit und der Eisenbahnzeit. Gerade die Eisenbahn spielte eine große Rolle bei der Gewöhnung der Menschen an den Umgang mit Zeitmaßen wie Minuten und Sekunden; sie revolutionierte nicht nur den Verkehr, sondern auch das Zeitbewußtsein. So führten die Eisenbahnverwaltungen neben der an den Fahrplan gebundenen und von einzelnen Ortszeiten unabhängigen Eisenbahnzeit noch eine Bahnhofszeit ein, um das Publikum durch ein beabsichtigtes und im Betrag später immer geringer werdendes Vorauseilen der Bahnhofsuhren an die Pünktlichkeit der neuen Züge zu gewöhnen…

Neuerungen auf dem Gebiet des Taschenuhrbaus wurden oft sehr rasch von den Uhrmachern verschiedener Regionen übernommen und lange Zeit beibehalten. Das erschwert eine genaue Einordnung und Zuordnung dieser Uhren. Zudem verloren sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend ihren individuellen Charakter, aus den kleinen Serien entand die industrielle Massenfertigung. Mit ihrem schützenden Übergehäuse, dem für alle Federzuguhren nötigen Aufzug per Schlüssel, der Kombination großer römischer und kleiner arabischer Zahlen sowie den fein ziselierten Zeigern erinnert die vorliegende Uhr an einen überwiegend von englischen Uhrmachern um 1800 hergestellten Taschenuhrtyp. Die Sekundenanzeige und die “Cylinder”-Hemmung (beide bereits im 18. Jahrhundert bekannt) erfuhren eine stärkere Verbreitung jedoch erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Eine “Zylinderuhr” fand man bis etwa 1850 nur unter den hochwertigen Erzeugnissen, danach wurde die “Cylinder”-Hemmung von Schweizer Uhrmachern massenhaft auch in einfache Uhren eingesetzt. Zylinderuhren wurden Standardware, während hochwertige Uhren nur noch mit dem neuen Ankergang ausgestattet waren. Auch ohne die starken Gebrauchsspuren ist ersichtlich, daß unsere Uhr ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs gewesen sein muß, ohne großen materiellen Wert.

zifferblattZifferblatt einer englischen Taschenuhr aus dem 18. Jahrhundert. Aus: Libuse Uresová, Alte Uhren. Hanau/M. o. J.

Dennoch meint der Amerikaner Robert Levine auch solche Uhren, wenn er ihr “liebenswürdig altmodische(s) Ticken (…) als den ‘Herzschlag der Kultur'” bezeichnet (Spiegel 33/1992: 184). Lewis Mumford hält die Uhr sogar für das archetypische Modell aller späteren Maschinen. Und richtig hat das Fortschreiten der Räderuhrentwicklung das Handwerk mit immer neuen, feineren Werkzeugen und Arbeitsverfahren beflügelt wie nie zuvor. “Im Fortschritt von der großen Kirchenuhr des sechzehnten Jahrhunderts zur kleinen ‘automatischen’ Armbanduhr mit Kalender und Wecker ist auch das erste Beispiel für den Prozeß der Miniaturisierung gegeben, auf den die elektronische Technologie mit Recht so stolz ist. Die Automatisierung der Zeit in der Uhr ist das Modell aller größeren Automatisierungssysteme” (Mumford 1974: 325f.).
Wilfried Wördemann
Der Verfasser dankt dem Uhrenhaus Andrae, Jever, für freundliche Beratung und Unterstützung.

Literatur:
Abeler, Jürgen, Meister der Uhrmacherkunst. Über 14000 Uhrmacher aus dem deutschen Sprachgebiet mit Lebens- oder Wirkungsdaten und dem Verzeichnis ihrer Werke. O. O. 1977.
Bassermann-Jordan, Ernst von, Uhren. Ein Handbuch für Sammler und Liebhaber. Vierte von Hans von Bertele völlig neu gestalt. Aufl. Braunschweig 1961.
Clutton, Cecil/Daniels, George, Taschenuhren. Geschichte und Technik. München 1982. Kiegeland, Burkhardt, Uhren. München 1976.
König, Gerhard, Die Uhr. Geschichte, Technik, Stil. Berlin, Leipzig 1991.
Mühe, Richard/ Kahlert, Helmut, Die Geschichte der Uhr. Aus den Beständen des Deutschen Uhrenmuseums Furtwangen. Furtwangen 1979.
Mumford, Lewis, Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. Wien 1974
Polatschek, Klemens, Eine Uhr fürs ganze Reich. In: Die ZEIT Nr. 13, 26.03.1993, S. 48.
Stolberg, Lukas, Ich trage, wo ich gehe, stets eine Uhr bei mir. Die Taschenuhr im Wandel der Zeit. Klagenfurt 1980.
Uhren ticken wieder. Boom am Chronometer-Markt: Die mechanischen Zeitanzeiger sind zurückgekehrt. In: Spiegel 33/1992, S. 184.
Uresová, Libuse, Alte Uhren. Hanau/M. o. J. [ca. 1986].

(Zuerst erschienen als Objekt des Monats Nr. 59, 1993) © Schloßmuseum Jever