Das Gedenken an die Neujahrsflut 1854/55 und die Sturmflut vom 3. bis 5. Februar 1825
Für das Gemeinschaftsgefühl und das Selbstverständnis der Menschen hinter den Deichen spielt der Schutz vor dem Wüten des Meeres seit Jahrhunderten eine zentrale Rolle. Bis in die Gegenwart, in der die mediale Präsenz großer Flutkatastrophen mit ihren oft reißerischen Bildern und Berichten unübersehbar geworden ist, stellt das Meer auch für das Land rund um den Jadebusen eine stete Bedrohung dar. Historische Karten, Zeitzeugenberichte, bildliche Darstellungen und eine ausgeprägte, lebendige Gedenkkultur bilden die wichtigsten Quellen in der kollektiven und individuellen Wahrnehmung und Verarbeitung dieser Katastrophen.
Wer heute dick eingepackt am Strand das Schauspiel einer Sturmflut betrachtet, erahnt, welche Urgewalt da an den Strand spült; in den letzten Jahren schleicht sich zudem eine merkwürdige Beklemmung im Hinblick auf die steigenden Wasserstände der Nordsee ob der Klimaerwärmung ein. Die Fluten haben ihren existenziellen Schrecken in unserer Region nicht verloren.
Die schweren Sturmfluten des Mittelalters haben den Jadebusen entstehen lassen. Heute schützen Deiche das Land. Die Pegelmarken der schweren Fluten zeigen jedoch, wie gefährdet die Marschen und Groden sind.
Die historischen Flutsteine standen ursprünglich auf einer Geesthöhe bei der Dangaster Mühle. Mit der neuen Deichlinie 1924 hatten sie ihre Funktion als Flutmarke verloren. Nach der Deicherhöhung 1972 wurden sie am Dangaster Siel aufgestellt.
Durch den menschengemachten Klimawandel, die Erwärmung des Atlantiks und das Abschmelzen des Grönlandeises wird der Meeresspiegel immer weiter steigen – prognostiziert sind 2 cm pro Jahr. Hinzu kommt, dass die Windgeschwindigkeiten und Starkregenereignisse zunehmen werden. Kommende Sturmfluten werden also auch rund um den Jadebusen zukünftig stärker und höher ausfallen.
Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts und auch noch weit darüber hinaus stand die metaphysische Deutung der Sturmflut im Vordergrund. Sie wurde als Zorn Gottes beschrieben, der ob der Schlechtigkeit der Menschen wütete. Die Erklärungen für die schweren Fluten des Mittelalters und auch die der Neuzeit von 1551, 1570, 1634 und 1717 folgen diesen Interpretationsmustern.
In einer religiösen Weltsicht stellte sich auch das Ereignis einer Sturmflut als Gottgegeben dar. Die Flut als Strafgericht Gottes war bis weit in das 19. Jahrhundert ein wichtiges Erklärungsmuster; seit der Aufklärung werden aber auch naturwissenschaftliche Ursachen, wie z.B. besondere Windlagen und mangelnde Vorsorge herangezogen.
Eine besondere Wetterkonstellation lag auch bei der großen Sturmflut von 3./4. Februar 1825 vor. Der (Ober)amtmann, Publizist und Bibliothekar Christian Friedrich Strackerjan (1777- 1848) hat für seine Oldenburgischen Blätter die wichtigsten Berichte ganz aktuell zusammengestellt:
Der Landeskundler und Geograph Arends sieht in den geographischen und naturkundlichen Gegebenheiten der niedrigen Marschländer die wichtigste Ursache für ihre Angreifbarkeit. Der Schutz durch die Deiche brachte den Menschen die Sicherheit:
Dieser tragische Irrtum lässt Arends das Sprichwort zitieren:
Das Gedicht, welches der jeversche Publizist Dunker seiner Beschreibung der Ereignisse von 1825 voranstellt und das in expressiver Weise das Grauen und die Ängste beschreibt, sieht keinen strafenden Gott als Ursache des Geschehens, sondern lässt wie in einem griechischen Trauergedicht nur einen Hilferuf an die Gottheit erschallen.
Der kraftvolle Stamm, stolz wie die Ceder,
scheint sich ächzend zu krümmen im Bogen.
Horch! Auf ! Ein schauerliches Getöse,
Als wären es ferne Stimmen brüllender Löwen,
Die hungernd und schnaubend wittern nach Beute:
O, du helfende Gottheit!
So hör ich die tobenden Fluthen,
Die ach vielleicht schon heute
Uns den Tod in schauerlichener Gestalt senden…“ F.B. Dunker, Darstellung der durch die Sturmfluthen vom 3. und 4. Februar angerichteten Verheerungen an der nordeutschen Küste, Jever 1826, Vorwort S. 2
Auch die Flutkatastrophe von 1825 war für viele landeskundlich und geographisch interessierte Autoren Anlass, eine Denkschrift zu verfassen, in der die schrecklichen Ereignisse und ihre Folgen beschrieben werden. Der jeversche Publizist Dunker behandelt die Sturmflut und die durch ihr verursachten Schäden in einer Darstellung und einer erläuternden Karte. Punkt für Punkt berichtet Dunker von Carolinensiel ausgehend bis zur jeverschen-oldenburgischen Grenze in der Höhe von Ellens, so dass wir auch heute noch noch, die Verluste nachvollziehen können. Besonders anschaulich schildert Dunker die Folgen für das Gebiet um Horumersiel:
37 Eine 200 Fuß breite gefährliche Braake (Grundbruch) von 25 Fuß Tiefe, an der Aussenseite am 7. Februar durch einen von Holz und Steinen vorgerichteten Kistdamm geschlossen, welcher mit Schlick überfahren und erhöht worden.
38 Ein Schiff, welches der Länge nach auf der Deichkappe sitzen geblieben.
39 Eine Kappstürzung mit einem Kolk dahinter
40 Ein Schiff zwischen dem Deich und einem Haus eingekeilt. Der Horumersiel ist an beiden Seiten umspühlt, jedoch durch vorgelegte Segel geschützt.“ F.B. Dunker, Darstellung der durch die Sturmfluthen vom 3. und 4. Februar angerichteten Verheerungen an der nordeutschen Küste, Jever 1826
Über die Silvester- bzw. Neujahrsflut von 1854/55 berichtet rund 40 Jahre später der ehemalige Seemann Christian Christians auf Wangerooge. Er war Sohn eines Schiffers und wurde 1819 auf der Insel geboren. Als 1897 der Tübinger Professor für Sprachen Enno Littmann als Badegast im Hause Christians auf der Insel weilte, war dieser besonders an der friesischen Sprache interessiert, die Christian Christians noch beherrschte. Um 1900 fand das Badeleben bereits im Osten der Insel statt, wo sich um den 1856 erbauten Leuchtturm das neue Dorf nach der schweren Sturmflut in der Neujahrsnacht 1855 gegründet hatte.
Die Flut zerstörte das bereits während der Februarflut 1825 stark beeinträchtige Dorf im Westen rund um den alten 1597 errichteten großen Turm, der neben seiner Funktion als Seezeichen auch einen Kirchenraum hatte. 1830 war hier als Ersatz für die alte Kohlenblüse von Otto Lasius im Auftrag der großherzoglichen Regierung ein moderner Leuchtturm errichtet worden. Dieser wurde, wie viele Häuser in dem Westdorf, wo auch bereits umfangreiche Anlagen für das Badeleben errichtet waren, durch Wind und Wellen zerstört.
Das war im Jahre 1854, und da hatten wir einen ganz schlimmen Herbst, lauter Sturmwetter, und das ganz schlimm. Das Wasser kam nicht von den Dünen ab; das konnte nicht zum Fallen kommen, wegen des steifen Windes. Der Wind war immer Westsüdwest, und das wurde immer schlimmer, und das hielt acht Tage vor Weihnachten an und wurde immer schlimmer. Weihnachten waren wir schon dabei, Häuser abzubrechen. Denn wir sahen das wohl, wenn der Wind dorthin aufraumte und westlicher lief, nach Nordwesten hinein, dann wird es ganz schlimm. Und das tat er zwischen Weihnachten und Neujahr, und Tag für Tag wurde es schlimmer, bis Neujahrsnacht war es ganz schlimm. Da gingen etwa 13, 14 Häuser an den Dünen herunter. All den Hausrat, der darin war, den hatten wir dort schon herausgetragen, und zwar in Häuser, die noch sicher standen. Die waren bis unter die Dachböden voll, und das Meiste war in unserem Hause – der, der dies hier erzählt, der hat das alles mitgemacht. Der ist noch in dem letzten Hause gewesen, um es abzubrechen und die Möbel herauszuholen, bis dass die Seen schon gegen die Mauern anschlugen. Das Haus, das fing schon an zu krachen, zu den Türen konnten wir nicht mehr hinauskommen: die Seen schlugen schon gegen die Türen an. Da mussten wir zum Fenster hinaus. Wir waren noch keine 15 Schritte vom Hause, da fiel das ganze Haus von der Seite herunter; von ihm war keine Spur mehr zu sehen. Da gingen wir und schauten nach, da war unser ganzer Kirchhof weg. Die Toten lagen in unseren Gärten, heil und auch stückweise. Heile Särge haben wir auch noch gefunden, und die Hälften und die Stücke haben wir beieinander gesucht und haben wir in den Ostdünen wieder begraben, wo unser Kirchhof jetzt ist. Da kam die Regierung (aus Oldenburg) hier nach Wangerooge und wollte uns alle von dannen haben und hielt uns vor, wir sollten Vorschuss haben, um nach dem Festland überzusiedeln. wir konnten uns eine Stätte wählen, wo wir hin wollten, und sollten Vorschuss haben 400, 500 und auch 600 Reichstaler und sie wollten uns am liebsten nach Varel haben, dieweil er (der Großherzog) dort Land zu bebauen hatte (die heutige Neuwangerooger Straße am Vareler Hafen). Dorthin mögen auch wohl 15 Familien übergesiedelt sein und die Grundstücke, die ihnen angewiesen wurden, haben sie 10 Jahre frei, ohne davon etwas abzubezahlen. Dann fingen die Zinsen an und die sich nicht helfen konnten und die auch keinen Vorschuss kriegen konnten, denen wurde ein Haus angewiesen, in Varel, das hieß Braugarten. Die geringen Leute kamen darin frei zu wohnen, und dann kriegten sie á Person 40 Reichstaler Unterstützungsgeld. Da kam die Regierung wieder und wollte uns auch von hier von dannen haben. Und das wollten wir nicht. Wir wollten hier auf Wangerooge bleiben. Da sagt die Regierung, wenn wir hier bleiben wollten, dann müssten wir uns selbst helfen. Wir hätten keine Hoffnung auf Unterstützung hier auf Wangerooge nicht. Und war da ein Mann in Jever – ich weiß nicht mehr, wie er geheißen hat – der war hier nach Wangerooge gekommen und hatte uns schon gefragt, ob wir hier am liebsten bleiben wollten. Da ist der Mann weggegangen nach Oldenburg und hat den Großherzog gefragt, ob er wohl eine Bittschrift für die, die auf Wangerooge bleiben wollten, genehmigen wollte. Und das hat er getan. Da hat der Mann so viel Geld zusammengekriegt, dass jeder 100 Reichstaler kriegte, sodass sie hier wieder im Ost-Ende ihre Häuser aufrichten konnten und 12 richtige Wangerooger Häuser sind hier wieder aufgebaut worden.“ Bericht des Insulaners Christian Christians über die schwere Sturmflut in der Neujahrsnacht 1854/55. (übersetzt aus dem Wangerooger Friesisch von Enno Littmann, Friesische Erzählungen aus Alt-Wangerooge, Oldenburg 1922, S. 11-15)
Diese eindrücklichen Berichte lassen erahnen, welche Macht das Meer hat. Für uns Menschen an der Küste hat die Klimakrise, für die uns hier in den kommenden Hundert Jahren steigende Pegelstände von bis über 1 Metern prognostiziert werden, eine besondere Bedeutung. Es ist wichtig, das wir alle unsere Verantwortung für die kommenden Generationen wahrnehmen und endlich ins Handeln kommen,
das wünscht sich zum Jahreswechsel 2024/2025 im Gedenken an die großen Fluten 1855 und 1825 Antje Sander.